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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2011

von Boris Kagarlitzki
Die Erschiessung eines Moskauer Fussballfans am 4.Dezember mutmasslich durch einen muslimischen Mann hat eine Kette von Kundgebungen und Gewalttaten ultranationalistischer Gruppen ausgelöst.

Eine Woche nach dem Mord protestierten rund 5000 Nationalisten und Fussballfans teilweise gewaltsam vor dem Kreml gegen die aus ihrer Sicht unzureichenden Ermittlungen der Behörden. Sie riefen Parolen wie «Russland den Russen». In der Folge kam es zu einer Reihe offenbar rassistisch motivierter Gewalttaten gegen Angehörige ethnischer Minderheiten aus den mehrheitlich muslimischen Republiken des Kaukasus und Zentralasiens.

Viele Menschen stehen immer noch unter dem Schock der Bilder von russischen Jugendlichen, die vor der Kremlmauer den Hitlergruß zeigen, und der Berichte von einem wütenden, blutdürstigen Mob, der sich durch U-Bahn-Wagen wälzt und dunkelhäutige Fahrgäste prügelt.

Die Randalierer hatten keinen politischen Plan und vertraten keine andere Ideologie als die des Hasses auf alles Nichtrussische. Kein einziger aus diesem Mob hat auch nur eine Parole gerufen, die zu einem sozialen oder politischen Wandel aufgerufen hätte. Beide Gruppen traten innerhalb einer kurzen Zeitspanne in großer Zahl in verschiedenen Städten auf – das weist darauf hin, dass ihre Aktionen im Vorfeld koordiniert waren.

Unabhängig davon, ob es ein Drehbuch hinter den Krawallen gegeben hat, weist das Szenario, das entfaltet wurde, nur auf ein mögliches Ende hin: den Zusammenbruch und die Zerstörung Russlands.

Die Logik der russischen Faschisten stand immer in scharfem Kontrast zur Logik und Tradition der Entwicklung der Nation. Das Problem ist nicht, dass die meisten Ultranationalisten wenig vertraut sind mit der Geschichte und Kultur derer, in deren Namen sie zu sprechen vorgeben – das gilt für faschistische Bewegungen in allen Ländern. Das Problem ist, dass Russland sich historisch als eine imperiale Nation entwickelt hat, für die ehtnische und kulturelle Vielfalt die natürliche und einzige Form der Existenz ist. In ethnisch homogenen Gesellschaften kann die faschistische Propaganda behaupten, die Mehrheit der Bevölkerung ideologisch zu einen; doch der russische Faschismus hat niemals auch nur versucht, sich in diesem Licht darzustellen.

Vom ersten Augenblick an, als er in den 1920er Jahren auftauchte, war der russische Faschismus eine Ideologie der nationalen Spaltung mit dem Ziel der Opposition zum und der Zerstörung des bestehenden russischen Staates.

Für russische Faschisten war es normal, an der Seite von Nazideutschland gegen ihr eigenes Land zu kämpfen. Hitlers Plan, den russischen Staat zu eliminieren, widersprach den Vorstellungen russischer Faschisten nicht. Dieser Plan forderte von der bestehenden russischen Nation mit ihrer Geschichte und ihren Traditionen, Platz zu machen für eine neue ethnische Gemeinschaft reinrassiger Slawen und Arier. Diese Gemeinschaft hatte mit der breiten russischen Bevölkerung nichts zu tun – weder ethnisch, noch kulturell noch religiös: denn das Christentum tritt für die Einheit auf der Basis des Glaubens, nicht der Blutzugehörigkeit oder der Stammeszugehörigkeit ein.

Wo aber sind all diese Faschisten hergekommen? Wie ist es möglich, dass ihnen Hitler lieber ist als der Stolz, den sie aus ihrem eigenen Land und seiner Geschichte ziehen können?

Überraschenderweise kommt eine beträchtliche Zahl derer, die Russlands «Schwarze» geschlagen haben, aus gutsituierten Familien, sie haben respektable Schulen und Hochschulen absolviert. Der Grund für ihren Aufruhr ist nicht Armut oder ein Mangel an Privilegien, sondern die breitere Gesellschaftskrise, die Russland erfasst hat. Die Mobs der Schwarzhundertschaften unserer Tage oder der nordkaukasischen Gangs sind die Folge eines allgemeinen Zusammenbruchs von sozialer Integration und Bildung.

Vor vielen Jahren beschrieb Erich Fromm in seinem Buch Die Furcht vor der Freiheit, wie die Auflösung der gesellschaftlichen Bande in einer Gesellschaft, die nach dem Prinzip lebt: Jeder ist sich selbst der Nächste, den psychologischen und kulturellen Nährboden für Faschismus legt. Wenn die wirtschaftlichen Prozesse, die in diese Richtung führen, nicht aufgehalten werden, steuern wir auf einen totalitären Alptraum zu.

Zuerst veröffentlicht in Moscow Times, 25.12.2010.
Boris Kagarlitzki ist Direktor des Institute of Globalization Studies in Moskau.

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