Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand.
Ein empirischer Gegenentwurf zu Thilo Sarrazins Thesen zu Muslimen in Deutschland. Eine Studie der Humboldt-Universität Berlin
www.heymat.hu-berlin.de
von Benedict Ugarte Chacón
Die Auseinandersetzung um Thilo Sarrazin und seine «Thesen» hält nun schon Monate an. Das liegt nicht nur an seinem Buch, sondern auch an der schon im Vorfeld der Veröffentlichung geschickt und medientauglich vorgenommenen Selbstinszenierung Sarrazins als angeblicher Tabubrecher, der endlich einmal das sagt, was man doch schließlich noch wird sagen dürfen:
Dass Muslime Probleme mit Bildung haben, deren Kinder «Kopftuchmädchen» sind und dass Angehörige von Religionsgemeinschaften auch irgendwie genetisch zusammenhängen, zumindest Juden. Das sieht auch eine gewisse ressentimentbeladene Anhängerschaft so, die sich eher anonym in diversen Online-Foren von Tageszeitungen aufhält oder geifernde Leserbriefe schreibt, als dass sie öffentlich sichtbar wird.
Die Studie Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand, erstellt im Rahmen des Forschungsprojekts «Hybride europäisch-muslimische Identitätsmodelle» (HEYMAT) der Humboldt-Universität Berlin, will einen Überblick über empirische Datensammlungen geben, die in der letzten Zeit von verschiedenen Forschungseinrichtungen zum Thema «Integration von Menschen mit muslimischen Migrationshintergrund» vorgelegt wurden. (Die damit angesteuerte Personengruppe ist nicht identisch mit «den Muslimen» oder «den Türken» oder «den Arabern».)
Thematisch gliedert sich der Überblick in die Felder: strukturelle Integration, kulturelle Integration, soziale Integration und Kriminalität.
Das verwendete Datenmaterial stammt u.a. aus Erhebungen des Statistischen Bundesamts, des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge und des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (Universität Bielefeld). Anhand des Materials überprüfen die Verfasser einzelne zentrale Behauptungen Sarrazins – machen also mit wissenschaftlichen Methoden das, was Sarrazin über weite Strecken nur vorgibt zu tun: Den Versuch, eine These mit echten Daten und Fakten zu untermauern.
Die Auswertung des vorhandenen Materials kommt u.a. zu dem Ergebnis, dass Sarrazin mit seinen Behauptungen zur Bildungssituation bei der Gruppe der Muslime zumindest insoweit daneben liegt, dass seine «Thesen» statistisch nicht nachweisbar sind. Das gleiche gilt auch für die – Menschen mit türkischem Migrationshintergrund unterstellte – Unwilligkeit, die deutsche Sprache zu lernen, oder für die Suggestion, es gebe einen Zusammenhang zwischen Islam und Kriminalität. Letztere Behauptung wird auch mit einem Schreiben des Polizeipräsidenten in Berlin widerlegt, das sich auf die Polizeiliche Kriminalstatistik und andere Erhebungen stützt – wir können annehmen, dass die Polizei die von ihr geahndeten Straftaten besser erfassen kann als ein fachfremder Ex-Senator.
Sarrazins «Thesen» sind auch keineswegs neu. Vielmehr kommt die Studie zum Schluss, Sarrazin habe «auf Datenmaterial zurückgegriffen, das seit Jahren vorlag und das bereits in die alltägliche Arbeit der Verwaltungen, Sozialarbeiter und des Quartiersmanagements eingeflossen ist». Angesichts der leichten Widerlegbarkeit seiner Behauptungen kann jedoch angenommen werden, dass die von ihm vorgenommene Auswertung dieses Materials weniger von Erkenntnissuche, als vielmehr vom Bedürfnis nach Ressentimentbestätigung geleitet war.
Den Gehalt der Sarrazin-Debatte fasst die Studie wie folgt treffend zusammen: «Insofern kann Sarrazin vor allem als Katalysator deutscher Befindlichkeiten verstanden werden, der eine Debatte um die nationale Identität angestoßen hat, die sich hinter schalem empirischem Datenmaterial versteckt und sich darauf konzentriert, im Zuge der irrlichternden, verzweifelten Suche nach der Frage ‹Was ist deutsch im 21. Jahrhundert?› zumindest jene zu benennen, die das Gegenteil darstellen sollen: ‹die› Muslime als die ewigen Fremden.»
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