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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2011
Zur Debatte über Libyen und die NATO-Intervention
von Marco Ferrando

Nachstehend dokumentieren wir einen Auszug aus einem Beitrag von Marco Ferrando, einem führenden Mitglied der PCL (Kommunistische Arbeiterpartei) aus Italien. Ferrando geht hier detailliert auf den Charakter der libyschen Revolution ein.

Die libysche Revolution ist eine reale Tatsache, selbst in den sie auslösenden Faktoren noch untrennbar verbunden mit dem allgemeineren Prozess der arabischen Revolution, die in Tunesien und Ägypten ihren Ausgang genommen hat. Natürlich hat die libysche Revolution eine andere Dynamik als die tunesische oder ägyptische. Aber nicht weil «das Regime von Gaddafi doch nicht so schlecht ist», es «den libyschen Massen besser geht als in Tunesien oder in Ägypten», es Formen der «Volksdemokratie» gibt usw., wie die neostalinistische Redensart gemeinhin behauptet. Sondern aus genau entgegengesetzten Gründen.

Das Regime von Gaddafi ist viel totalitärer und despotischer, als es das von Ben Ali oder Mubarak war. In Tunesien und Ägypten haben bonapartistische und korrupte Regime Formen einer eingeschränkten politischen «Opposition», und in eng kontrollierten Grenzen auch gewerkschaftliche Aktivität geduldet. Das hat es möglich gemacht, dass in der Aufschwungphase der Revolution organisierte Kanäle genutzt werden konnten – man denke nur an die Rolle der Gewerkschaft UGTT in Tunesien oder, in viel geringerem Umfang, die von unabhängigen Gewerkschaften in Ägypten. In Libyen hat das Regime regelmäßig von militärischer Hand noch jeden Schatten einer internen Opposition ausgerottet, jeden Freiraum für gesellschaftliche oder gewerkschaftliche Betätigung ausradiert und ein feinmaschiges Netz polizeilicher Kontrolle über die Gesellschaft gelegt (die sog. Revolutionskomitees).

In Tunesien und Ägypten gab es und gibt es mächtige nationale Armeen, die an ihrer Spitze dem Imperialismus höriger sind, an der Basis aber der Ansteckungsgefahr durch den Massendruck stärker ausgesetzt. In Libyen ist und war die Armee sehr reduziert, die Privatmiliz des Rais aber sehr stark – eine separate Struktur des Regimes, ohne Durchlässigkeit zur libyschen Gesellschaft und organisch von der Familie Gaddafi abhängig. Hinzu kommen Söldnermilizen, die der Oberst direkt in Zentralafrika rekrutierte – häufig unter Zuhilfenahme zionistischer Vermittlung, wie einige italienische Zeitungen peinlich berührt belegten.

In Tunesien und in Ägypten gab und gibt es eine bedeutende einheimische Arbeiterklasse, die nicht zufällig in beiden Ländern im revolutionären Prozess eine bedeutende Rolle gespielt hat. In Libyen ist die Industriearbeiterschaft äußerst begrenzt, sehr präsent ist hingegen ein importiertes Proletariat, das aus anderen arabischen Ländern (vor allem Tunesien und Ägypten), aber auch aus Asien, dem Sudan, Tschad, dem Herzen Schwarzafrikas kommt und auf einen halb versklavten Status reduziert ist – was auch den westlichen «demokratischen» Unternehmen zugute kommt; politisch ist es entrechtet.
Reicht dies, um die größeren Schwierigkeiten der libyschen Revolution und ihre Besonderheiten zu erklären? Es unterstreicht in jedem Fall den heroischen Charakter des Aufstands in Bengasi und in vielen anderen Städten der Cyrenaika und Tripolitaniens, erkärt aber auch, warum er sofort in eine militärische Konfrontation und einen Bürgerkrieg übergegangen ist (und bedeutende Teile der Armee zu den Aufständischen übergelaufen sind).

Umgekehrt gilt auch: Wer dem Aufstand den Charakter einer Revolution von unten abspricht und in ihm nur einen «Bürgerkrieg» sieht, ignoriert nicht nur die Beziehungen zwischen Revolution und Bürgerkrieg in der Geschichte, der radiert auch die konkrete Dynamik der Ereignisse in Libyen aus, wo die einzig mögliche, konkrete Form der Revolution von unten – unter den Bedingungen, die das Regime diktierte – eben der Bürgerkrieg war. Wer also entsetzt den Bürgerkrieg in Libyen von sich weist, weist de facto auch die Revolution der Bevölkerung gegen Gaddafi von sich. Das ist genau die Schlussforgerung der Stalinisten.

Man kann die libysche Revolution auch nicht mit dem Verweis auf sog. «Stammeskriege» negieren. Natürlich ist das alte Netz der Stammesbeziehungen in Libyen noch sehr präsent, und zweifellos haben auch Stammesbeziehungen im Aufstand gegen Gaddafi eine Rolle gespielt – das war auch historisch in zahlreichen antikolonialen Massenbewegungen und sozialen Revolten, vor allem in Afrika, der Fall. Aber es ist völlig falsch, einen Volksaufstand auf Stammesfehden zu reduzieren. In gewisser Weise verhält es sich genau umgekehrt. Es war das Regime von Gaddafi, das die Stammesstruktur der libyschen Gesellschaft, um des eigenen Machterhalts willen, durch eine Machtstruktur, die die Stammesoberhäupter unmittelbar einbezog, weitgehend konserviert hat.

Auch jetzt hat Gaddafi noch direkt an die Stammesführer appelliert, als er seinen «Aufruf zu Befriedung» gegen die Revolution lancierte. Und es war die Revolution der Massen, die diese Struktur partiell aufgelöst hat, indem sie die Jugend mit einbezog, die weitgehend außerhalb dieser Tradition steht, und Bevölkerungsschichten aus den verschiedensten Stämmen um die gemeinsame demokratische Forderung nach Sturz des Regimes zusammen geführt hat. Auch die Zusammensetzung des Revolutionsrats in Bengasi folgte keineswegs Stammeskriterien.

Auszug aus «Contro l’intervento imperialista, ma dalla parte della rivoluzione libica». www.pclavoratori. it

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