von Hossam Tammam und Patrick Haenni
Der sunnitische Islamismus empfindet tiefes Unbehagen gegenüber der sozialen Frage. Die Muslimbrüder in Ägypten sind ein Beispiel dafür, wie sich Kritik an Profitgier und Korrption mit der Ablehnung einer sozialen Konfliktorientierung paart. Der erste Teil des nachstehenden Artikels (erschienen in SoZ 4/2011) behandelt die korporatistische Weltsicht der Brüder und ihr Verhältnis zur Geschäftswelt. Der zweite und letzte Teil handelt von ihrem Verhältnis zur Arbeiterschaft.
«Die Muslimbrüder haben niemals die Technik des gewerkschaftlichen Kampfes beherrscht, sie sehen in den Gewerkschaften das dämonische Werk kommunistischer Führer», sagt Gamal al-Banna, ägyptischer Gewerkschafter und Islamist. Ein differenzierteres Bild zeigt, dass sie zeitweise, in den 40er Jahren und auch nach dem Wiederaufflammen der gewerkschaftlichen Kämpfe 2005, eine niedrigschwellige Aktivität unter Arbeitern entfaltet haben: politische Bewusstseinsbildung, punktuelle Verteidigung einiger ihrer Interessen, manchmal Druck für höhere Löhne, gegen Entlassungen oder auch gegen die Bevorzugung ausländischer Fremdarbeiter. Es dominiert bei ihnen jedoch die Vorstellung, dass die Arbeitswelt ein Ort der Predigt sei, diese möge «in die Köpfe [der Arbeiter] eindringen und sie im religiösen Eifer anspornen».
Im Allgemeinen betrachten die Muslimbrüder Arbeiterproteste als «gegen die Lehren des Islam gerichtet». In den 40er Jahren arbeiteten sie mit dem Palast zusammen, um Streiks zu brechen, manchmal haben sie sich mit den Streikenden aber auch solidarisiert. Nach ihrem Verbot durch Nasser 1954 zielten die Reorganisierungsversuche der Bruderschaft in erster Linie auf Universitäten und Berufsverbände, nicht auf die Gewerkschaften. Erst ab dem Ende der 90er Jahre versuchten sie, auch im proletarischen Milieu Fuß zu fassen.
Paternalismus
Dieses neue Interesse für die Lohnabhängigen ist geprägt von einem korporatistischen Herangehen an gewerkschaftliche Aktionen, das in deutlichem Gegensatz zur Protestkultur der neuen linken Arbeiterführer steht, die in den letzten Jahren eine neue Dynamik in die Arbeiterbewegung gebracht haben. Adel Hamed, Parlamentarier und Gewerkschafter der Muslimbrüder, fordert, «die Versöhnung von Kapital- und Arbeiterinteressen» solle an die Stelle des traditionellen gewerkschaftlichen Aktivismus treten.
Junge Muslimbrüder beklagen, dass die Bruderschaft soziale Proteste noch immer als «Angelegenheit von Kommunisten» wahrnimmt, auch wenn die Forderungen wohlbegründet sind. Viele religiöse Persönlichkeiten wie Scheich Yussef Badri halten im Namen der Umma [Gemeinschaft aller Gläubigen] Streiks für unzulässig.
Die einzige Möglichkeit, zugleich Gewerkschafter und Islamist zu sein, führt somit über eine gewisse Form von Paternalismus. Ein Gewerkschafter, Muslimbruder aus Alexandria, sieht die Aufgabe der Brüder in der Welt der Arbeiter als dreifache, und zwar in folgender Reihenfolge: die religiöse Erziehung der Arbeiter, ihre Berufsausbildung, die Verteidigung ihrer Löhne und Arbeitszeit.
Der Arbeiter ist also sicher ein Rechtssubjekt, vor allem aber ein Objekt der Rekrutierung und der Predigt. Mohamed Habib, die Nr.2 der Muslimbrüder, erklärt, man müsse die Arbeiter, nicht ihre Revolten erfassen. Khaled Hamsa, Chefredakteur von Ikhwanweb, der englischsprachigen Webseite der Bruderschaft, weist darauf hin, dass die Gewerkschaftsführer der Muslimbrüder ihre Popularität zu 80% ihrer Tätigkeit als Prediger verdanken, nicht ihrer Aktivität als Arbeitervertreter. Für ihn «gehört ihr Diskurs nur am Rande zur Welt der Arbeit».
Typisch dafür ist, dass die Arbeitersektion der Bruderschaft kein einziges Schulungshandbuch für die Intervention in die Arbeitswelt hat, wo die Bruderschaft sich doch als Inhaberin einer «totalen» Weltanschauung begreift und eine Unmenge Schriften zu spezifischen Fragen anderer Sektionen, beispielsweise der Frauensektion, bereithält. Ein Arbeiterführer der Muslimbrüder aus einem alten Kairoer Viertel, der diesen Mangel bedauert, gibt zu, dass «wir, um uns zu schulen, die Literatur der Linken lesen», eine Literatur, «der wir weitgehend zustimmen», dabei aber die Vorstellungen der Linken vom sozialen Konflikt ablehnen.
Der Generalstreik 2008
Das Schwanken der Brüder im Generalstreik vom 6.April 2008 und in den nachfolgenden Mobilisierungen illustrieren gut das Problem, das eine Beteiligung an den Protesten für sie darstellt. Der «Tag des Zorns», wie ihn die Organisatoren des Generalstreiks nannten, richtete sich umfassend gegen Arbeitslosigkeit, politische Repression, das Fehlen demokratischer Freiheiten und die Teuerung in der Stadt und war gar nicht oder kaum islamistisch geprägt.
Anfänglich, als eine Gruppe der «Bewegung der Jugend des 6.April» das Büro der Muslimbrüder aufsuchte, bestätigte der Verantwortliche für die Koordinierung mit den nationalen Kräften die Weigerung der Muslimbrüder, sich am Streik zu beteiligen. Für diese Passivität wurden sie heftig kritisiert. Daraufhin beteiligten sie sich zögerlich am zweiten Generalstreik, am 4.Mai 2008. Dieser scheiterte, im Gegensatz zum ersten Generalstreik, zu dem die Arbeiter, besonders in den Fabriken von Mahalla al-Kubra, stark mobilisiert hatten.
Zum ersten Jahrestag des Streiks am 6.April 2009 wollten die Muslimbrüder anfangs erneut ihre Teilnahme verweigern, aber sie verurteilten den Streik nicht. Nur ein führendes Mitglied, Abdel-Meneim Abu al-Futuh, der einzige Vertreter der demokratischen Strömung in der Führung der Muslimbrüder, unterstützte die Bewegung. Dann, eine Woche vor dem festgesetzten Streiktermin, begann die Führung nachzugeben und gab bekannt, die Studierenden der Bruderschaft würden teilnehmen. Schließlich riefen die Brüder am 2.April die Bevölkerung auf, «friedlich» zu demonstrieren.
Einem den Brüdern nahestehenden Intellektuellen zufolge hat das zögerliche Verhalten der Führung verschiedene Gründe. Manche sind taktischer Natur, wie die Zurückhaltung bei politischen Bündnissen mit weniger sichtbaren Akteuren, die eher bei Facebook als auf der Straße bekannt sind. Andere sind strategischer Natur und haben mit der Angst vor der Spontaneität der Massen zu tun (am 6.April 2008 wurden Plakate von Präsident Mubarak abgerissen und öffentliche Gebäude zerstört). Und immer begegnet man der Angst vor der Auflösung der allumfassenden islamischen Sache in zersplitterte Protestbewegungen, die mit spezifischen Interessen unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen verbunden sind.
Ein Anti-Protest-Programm
Die Schwierigkeiten für die Muslimbrüder, sich in der Welt der Arbeit zu positionieren, sind symptomatisch für eine breitere Tendenz: Horizontale Mobilisierungen, die sich auf Klassensolidarität gründen, passen schlecht zu den Muslimbrüdern, aus drei Gründen:
– Da ist erstens die Angst vor der fitna («Aufruhr, Rebellion»). Diese Angst rechtfertigt – und begründet – eine Politik des Abwartens; vorrangig ist das Gebot, die Umma vor dem konstruktiven Chaos zu bewahren, das die Bush-Administration in der Region schaffen möchte, und das in der Vorstellungswelt der Muslimbrüder äquivalent zum islamischen Konzept der fitna ist. Sich auf dem Terrain möglicher sozialer Unruhen zu bewegen, ist in den Augen zahlreicher Führer und gewerkschaftlicher Kader der Brüder deshalb gleichbedeutend damit, das Spiel der USA zu spielen.
Hinter dieser Angst steht laut Mohamed Habib die strategische Vorstellung von zwei unterschiedlichen Bewegungen: Da sind zum einen die sozialen Protestbewegungen, z.B. gegen die Teuerung. Zum anderen fordern politische Protestbewegungen mehr Freiheit und ein Ende der Repression. Je stärker nun die sozialen Protestbewegungen, sagt Habib, desto schwächer die politischen Proteste. Denn die Strategie der Regierung bestehe darin, die beiden Bewegungen gegeneinander abzuschotten und auf die unmittelbaren Vorteile zu setzen, die sie den verschiedenen Gruppen des sozialen Protests individuell zukommen lassen kann. Gegenüber dem politischen Protest werde die Regierung hingegen unnachgiebig sein und mit Gewalt und Militärgerichten antworten. Um nicht das Spiel des Regimes zu spielen, müssten die Muslimbrüder deshalb in den sozialen Mobilisierungen ständig präsent sein, damit sie den sozialen Protest mit einem globalen Diskurs – dem der Muslimbruderschaft – verbinden können.
Zunächst einmal geht es also darum, eher die Basis von sozialen Bewegungen einzubinden, als ihre Führung zu gewinnen. Denn sie stellen «Forderungen für Sondergruppen» auf, und «Sonderinteressen» ist bei den Muslimbrüdern ein negativ besetzter Begriff, weil er auf die Fragmentierung der islamischen Sache hinausläuft – auch auf die Gefahr hin, dass bei den Brüdern Spannungen mit einem Teil ihrer sozialen Basis auftreten. Tatsächlich haben 2008 zahlreiche Jugendliche in der islamistischen Bewegung darauf gedrängt, an der Seite der Arbeiter mitzudemonstrieren, doch die Führung der Bruderschaft weigerte sich aus Angst vor der fitna.
Das zweite Hindernis für die Verankerung der Muslimbrüder in der Arbeiterschaft ist das Gewicht der Dawa, der Sektion für politisch-religiöse Verkündigung: Sie ist die bei weitem mächtigste Sektion der Bruderschaft und hängt einer totalisierenden Sichtweise an. Bei einer internen Auseinandersetzung darüber, ob die Bruderschaft sich auch zu Fragen äußern dürfe, die nicht die Scharia betreffen (Schleier, Sittlichkeit), vertrat die Dawa die Auffassung, soziale Fragen gingen die Muslimbrüder nichts an, weil die Proteste auf neuartigen Forderungen partikularistischer Art beruhten. Die politische Sektion der Brüder, Esam el-Erian, tritt am stärksten für eine Intervention in die soziale Frage ein.
Eine dritte Erklärung liefern die ökonomischen Interessen: Die Lobby der Geschäftsleute in der Führung der Bruderschaft und die zahlreichen wirtschaftlichen Erfolgsgeschichten in ihren Reihen bringen die Führung bisweilen in Interessenkonflikte mit ihrer Basis. (Demgegenüber wird die demokratische Strömung in der Bruderschaft zunehmend marginalisiert.) Das schwache Profil der Muslimbrüder in der großen Arbeiterdemonstration von Mahalla im Mai 2008 erklärt sich unter anderem auch durch die Tatsache, dass Saad Husseini, der Abgeordneter der Muslimbrüder aus diesem Gouvernorat, selber einige der Fabriken besaß, die von den Arbeitern bestreikt wurden.
Gespalten
Trotz der Bemühungen der Brüder, unter den Arbeitern Fuß zu fassen, werden die zunehmenden sozialen Proteste somit immer weniger von den Muslimbrüdern erreicht. Die dramatische Verschlechterung der ökonomischen Lage und die Verschärfung der sozialen Ungleichheit hat sie jedoch gezwungen, die neuen sozialen Fragen (die Teuerung, die Folgen der Privatisierungen) dennoch aufzugreifen.
So hat sich die Parlamentsfraktion der Bruderschaft gegen die sozialen Folgen der Privatisierungsprogramme gewandt, und die islamistischen Gewerkschaftsführer haben die Bedeutung von Lohnverhandlungen erkannt. Schließlich hat sich die Bruderschaft am 16.Januar 2008 in einem Kommuniqué gegen die Vorherrschaft der Geschäftsleute und gegen die allgegenwärtige Korruption gewandt; das Kommuniqué betont die soziale Ungerechtigkeit, während die Muslimbrüder historisch stets die politische Ungerechtigkeit hervorgehoben haben.
Eine rechte Positionierung der Bruderschaft ist nicht zwangsläufig. Doch stellt die neue islamistische Sensibilisierung für die soziale Frage keinen Bruch mit der traditionellen Orientierung dar, sondern ist Ausdruck eines neuen Spannungsherds innerhalb der Bruderschaft. Unter den Gewerkschaftern führt der Wille, sich aktiver für die Verteidigung der Löhne einzusetzen, nicht zu einer anderen, konfliktorientierteren Sicht der Verhältnisse.
Das Kommuniqué vom 16.Januar 2008 ist mit Vorsicht zu behandeln. Erstens ist es relativ isoliert geblieben. Zweitens ist es keinesfalls links. Es wirft die soziale Frage als implizite Bedrohung der sozialen Ordnung auf, damit wird aus der sozialen Frage eine bürgerliche Sorge. Das neue Interesse der Muslimbrüder für die Arbeitswelt bedeutet keine Linkswende, sondern eine Spaltung in der sozialen Frage.
Hossam Tammam war früher selber Muslimbruder und forscht über die islamistische Bewegung. Patrick Haenni arbeitet als Forscher am Zentrum für wirtschaftliche, juristische und soziale Studien und Dokumentation in Kairo. Der Artikel erschien im Mai 2009 in der Zeitschrift Etudes et analyses des Institut Religioscope in Fribourg (Schweiz).(Übersetzung: hgm.)
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