von Thadeus Pato
Nicht nur Atomkraftwerke, auch der Uranabbau birgt ungeheuerliche Gesundheitsrisiken. Ein historischer Überblick über die Entdeckung und den Umgang mit den Gefahren.
Als Theophrastus Paracelsus im 16.Jahrhundert sein Werk Von der Bergsucht oder Bergkranckheiten drey Bücher schrieb, war von Radioaktivität nichts bekannt.
Ihre Folgen allerdings gab es bereits, auch wenn es noch bis zum Anfang des 20.Jahrhunderts dauerte, bis die Ursache für die bei den Bergleuten der Schneeberger und Joachimsthaler Erzgruben gehäuft auftretenden Lungenkrebserkrankungen sicher benannt werden konnte.
Die im 12.Jahrhundert zufällig entdeckten, oberflächlich liegenden Silbervorkommen im Erzgebirge wurden zunächst im Tagebau gefördert. Später grub man tiefer. Neben Silber wurden auch Wolfram, Nickel, Arsen, Kobalt, Kupfer und Wismut gefunden (letzteres gab der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut, die in der DDR Uran förderte, ihren Namen). Bei der Förderung stieß man immer wieder auf ein schwarzes Material, das man Pechblende nannte und mit dem man zunächst nicht viel anfangen konnte. Erst 1789 wies ein gewisser Heinrich Klaproth nach, dass sich darin ein bisher unbekanntes Metall befand – Uran.
Die Bergleute wurden nicht alt, neben den «üblichen» Grubenunglücken waren dafür in erster Linie Lungenerkrankungen verantwortlich. Dafür bürgerte sich seit dem 16.Jahrhundert die Bezeichnung «Bergsucht» ein, die Betroffenen wurden «bergfertig» genannt und starben sehr häufig in jugendlichem Alter. Paracelsus vermutete Arsen als Ursache, aber erst nach der vorletzten Jahrhundertwende wurde in Untersuchungen der extrem hohe Gehalt an Radium bzw. am Gas Radon in Wasser und Luft der Schneeberger Gruben festgestellt. Reihenuntersuchungen, durchgeführt zwischen 1922 und 1926, brachten das ganze Ausmaß des Problems zutage: Von 154 untersuchten Bergleuten starben in drei Jahren 21, davon 71% an der sog. Schneeberger Bergkrankheit.
Die Reaktion darauf war die auch heute bei beruflichen Schadstoffbelastungen übliche: Es wurden Grenzwerte festgesetzt, die im Laufe der folgenden Jahrzehnte kontinuierlich nach unten korrigiert werden mussten.
Grenzwerte?
Grenzwerte für Schadstoff- und auch Strahlenbelastung haben etwas Suggestives: Sie spiegeln vor, dass eine Belastung unterhalb des Wertes für die Betroffenen ungefährlich sei. Gerade bei radioaktiver Strahlung – auch Röntgenstrahlung – ist das falsch. Es gibt generell keine «ungefährliche» Dosis. Auch die sog. «natürliche» Belastung ist bereits ein Risiko. Die Grenzwerte stellen in der Regel einen Kompromiss zwischen den gesundheitlichen Erfordernissen und dem technisch Machbaren dar. Oder, um es deutlicher zu sagen: Es handelt sich um einen Kompromiss zwischen Gesundheitsschutz und Wirtschaftlichkeit.
Betrachtet man die im Strahlenschutzgesetz festgelegten Grenzwerte, stellt man fest, dass es für den deutschen Gesetzgeber sozusagen drei Sorten von Menschen gibt, die unterschiedlich viel Strahlung vertragen: Für die Allgemeinbevölkerung, z.B. für die Bewohner in der Umgebung von Kernkraftwerken, liegt der Wert bei 0,3 Millisievert (mS) pro Jahr für die Belastung aus der Luft und zusätzlich 0,3 mS für Abwässer. Im Störfall vertragen die Anwohner dann plötzlich bis zu 50 mS pro Jahr.
Die Menschen wiederum, die beruflich Strahlung ausgesetzt sind, vertragen grundsätzlich 50 mS pro Jahr, wobei in der deutschen Strahlenschutzverordnung noch festgelegt ist, dass die Belastung insgesamt 100 mS in fünf aufeinanderfolgenden Jahren und die Lebenszeitbelastung 400 mS nicht überschreiten soll.
Dass im Bedarfsfall diese Bestimmungen rasch den technischen «Zwängen» angepasst werden können, erleben wir derzeit in Fukushima: Der japanische Grenzwert für Arbeiter im Nuklearbereich – mit 100 mS bereits doppelt so hoch wie der in Deutschland zulässige Wert – wurde flugs auf 250 mS heraufgesetzt, nachdem mehrere Arbeiter bei den «Aufräum»arbeiten eine Dosis von 170–180 mS abbekommen hatten. Hätte man die alten Werte beibehalten, wären den Betreibern vermutlich bald die Arbeiter ausgegangen, da diese nach Erreichen der Jahresdosis nicht weiterbeschäftigt werden dürfen.
Das Heimtückische dabei ist, dass diese Dosis so gewählt wurde, dass die Betroffenen zunächst einmal nicht viel bemerken: Bis 200 mS treten keine Symptome auf, allerdings steigt die Wahrscheinlichkeit von in längerem Abstand zur Exposition auftretenden Spätschäden wie Krebs oder Genmutationen, also Erbgutschädigung, rapide. Zwischen 200 und 500 mS kommt es zur – ebenfalls unbemerkten – Reduzierung der Zahl der roten Blutkörperchen. Ab 500 mS tritt der sog. Strahlenkater auf, und zwischen 1000 und 2000 mS (1–2 Sievert) erleiden die Menschen eine «leichte» Strahlenkrankheit, mit etwa 10% Todesfällen innerhalb von 30 Tagen.
Im Katastrophenfall: Kanonenfutter
Bei atomaren Katastrophen wie in Tschernobyl oder Fukushima stehen die Betreiber vor einem Problem: Bis heute sind bestimmte Tätigkeiten nicht von Robotern oder ferngesteuerten Maschinen durchführbar. Da bei einem «Störfall» dieser Kategorie die Strahlung extrem hoch ist, haben die Arbeiter innerhalb kurzer Zeit ihre Maximaldosis erreicht und müssen ausgewechselt werden.
Naturgemäß findet sich, auch für Preise, wie sie derzeit in Fukushima bezahlt werden (angeblich bis zu 3000 Euro pro Schicht), nur eine begrenzte Anzahl von Menschen, die bereit sind, das tödliche Risiko einzugehen. Das sind in der Regel Leiharbeiter. Die eigenen fest angestellten Techniker will man nicht verheizen, weil sie nicht so einfach ersetzbar sind. Um mit diesem Problem umzugehen, gibt es verschiedene Möglichkeiten: Eine ist, wie schon erwähnt, dass man die Grenzwerte heraufsetzt – das ist die billigste und schnellste Lösung. Der Haken dabei: Ab 3000 Millisievert hat man es schon mit 50% Todesfällen in den ersten 30 Tagen zu tun.
Die zweite Lösungsmöglichkeit ist die, zu der in Tschernobyl gegriffen wurde: Man karrt Hunderttausende Arbeiter heran, die regelmäßig ausgewechselt werden. In der akuten Phase kamen damals ca. 200000 Arbeiter zum Einsatz, insgesamt waren es über 800.000. In Tschernobyl aber war selbst das nicht ausreichend, denn zu Beginn war die Strahlung derart hoch, dass bei den direkt am Reaktor (und darunter, denn es wurden ja damals Stollen unter den Reaktor getrieben, um eine Stickstoffkühlung zu installieren) arbeitenden Menschen der Grenzwert bereits nach Minuten erreicht war. Dem einen oder der anderen werden noch die Fernsehaufnahmen in Erinnerung sein, auf denen zu sehen war, wie die Arbeiter im Laufschritt zum detonierten Reaktor rannten, ein paar Brocken wegräumten und wieder zurückrannten.
Dabei kam die dritte Möglichkeit zum Einsatz – man stattete die Leute einfach nicht mit Messgeräten aus und «schätzte» die Dosis. In Fukushima scheint man ähnlich vorgegangen zu sein. Nach ein paar Tagen kam heraus, dass nur für die Hälfte der Arbeiter überhaupt sog. Dosimeter vorhanden waren. Wie man dann die eventuellen Folgen verschleiert, dafür ist ebenfalls Tschernobyl die Blaupause, die Methode ist allerdings auch in Deutschland im Störfall und bei strahlenintensiven Arbeiten gang und gäbe. Sie lässt sich mit dem schönen deutschen Sprichwort zusammenfassen: «Aus den Augen, aus dem Sinn».
Die sog. «Liquidatoren», wie die in aller Eile aus der ganzen Sowjetunion zusammengekarrten Arbeiter genannt wurden, bekamen nach Abschluss ihres Einsatzes eine Verdienstmedaille und verschwanden von der Bildfläche. Der größte Teil wurde überhaupt nicht erfasst, geschweige denn, dass es Nachuntersuchungen oder sonst eine medizinische Nachbetreuung gegeben hätte.
In Fukushima hatte man noch eine vierte Variante parat: Wenn die Masche mit der «nationalen Verantwortung» nicht zieht, greift man zum Zwang. Am 22.März wurde ruchbar, dass die angeblichen «Helden» von der japanischen Feuerwehr, die mit ihren Spritzen den Reaktor kühlten, dies nicht freiwillig taten. Sie waren vom Industrieminister höchstpersönlich bedroht worden.
Die Verfahrensweise, Leiharbeiter einzusetzen, kommt im Übrigen nicht nur bei Störfällen zur Anwendung. Für diesen «Berufszweig» hat sich die Bezeichnung «nukleare Tagelöhner» eingebürgert.
Auch in deutschen AKWs werden sie für Arbeiten mit hoher Belastung angeheuert, meist von Reinigungsfirmen, wie zum Beispiel nach dem Unfall im AKW Gundremmingen 1977, als radioaktives Wasser 3 Meter hoch im Reaktorgebäude stand. Nachdem das Wasser einfach ins Freie abgelassen worden war, mussten die nuklearen Tagelöhner das Gebäude von Hand reinigen.
Im Normalfall: Tod auf Raten
Die ersten Erkenntnisse über die Gefahr durch radioaktive Strahlung gewann man, wie eingangs bemerkt, im Bergbau. Auch in dieser Branche wurde mit Grenzwerten hantiert, wie es gerade ins wirtschaftliche Konzept passte. Als die USA am Ende des Zweiten Weltkriegs aus Thüringen und Sachsen abzogen, überließen sie der Sowjetunion die weltweit größten bekannten Uranvorkommen. (Bis 1990 war der DDR-Uranbergbau immer noch der drittgrößte der Welt.)
Das Uran wurde zunächst im Tagebau, dann auch im Tiefbau, teilweise bis 3000 Meter Tiefe, gefördert. Zu Beginn gab es keinerlei Sicherheitsvorkehrungen, die Strahlenbelastung wurde geheimgehalten. Die Wismut-Arbeiter, wie die Beschäftigten der SDAG Wismut genannt wurden, bekamen ihr teils sehr kurzes Leben mit höheren Gehältern und Sonderregelungen beim Einkauf knapper Güter «versüßt».
Nach Angaben der «Wismut» starben bis 1996 5240 Bergleute an Lungenkrebs, weitere 14.500 an Silikose (Staublunge) – wobei die reale Zahl sehr viel höher sein dürfte, weil in den Jahren von 1946 bis 1955 keine Erfassung der Strahlenbelastung erfolgte und nach der Wende ein Teil der Akten aus verschiedenen Gründen verlorenging.
Außerdem waren die Messungen lückenhaft und wurden teilweise geschätzt – eine individuelle Dosis wurde bis 1971 schlicht nicht ermittelt, bis dahin wurde der Lungenkrebs erst ab einer Tätigkeit von mindestens zehn Jahren unter Tage als beruflich bedingt angesehen.
Die später festgelegten Grenzwerte lagen überdies extrem hoch: Für die Anerkennung eines Lungenkrebses als Berufskrankheit bedurfte es ab 1970 einer kumulierten Radonbelastung von 450 WLM (Working Level Mark), das sind 4,5 Sievert. Die westdeutsche Bergbau-Berufsgenossenschaft legte dagegen einen Wert von 200 WLM, also weniger als die Hälfte, zugrunde. Übrigens diente sich der gleiche «Fachmann», der zu DDR-Zeiten diese Grenzwerte, nach denen fast niemand eine Anerkennung erhalten konnte, zu verantworten hatte, nach der Wende den bundesdeutschen Behörden an und rechnete plötzlich für den Zeitraum von 1951 bis 1956 um ein Vielfaches höhere Belastungen aus, als er dies zu DDR-Zeiten getan hatte.
Nicht nur abschalten – Abbau stoppen!
Die gesamte Produktionskette der nuklearen Energiegewinnung ist gekennzeichnet durch die permanente Gesundheitsgefährdung der in ihr Beschäftigten – vom Abbau über die Weiterverarbeitung bis hin zur Beseitigung der Hinterlassenschaften. Und auch im sog. Normalbetrieb gibt jede Anlage Radioaktivität in die Umgebung ab, nicht nur das AKW, sondern auch die Bergwerke: In Häusern der Gegend um Joachimsthal und Schneeberg wurden Belastungen bis 100.000 Becquerel Radon gemessen – die Strahlenschutzkommission hält Werte bis 250 Becquerel für akzeptabel.
Diese Belastungen stammen zum Teil von den Ausgasungen der unter den Orten liegenden Stollen, zum Teil wurde aber auch strahlender Abraum zum Hausbau verwendet.
Die australische Elektrizitätsarbeitergewerkschaft ETU hat aus diesen seit langem bekannten Tatsachen über die Gefährdung der Arbeiter im Nuklearbereich die einzig richtige Konsequenz gezogen: Sie hat ihren Mitgliedern die Arbeit im Uranbergbau kurzerhand verboten und angekündigt, dass sie alles tun wird, um die Ausweitung des Uranbergbaus zu bekämpfen.
Das Beispiel sollte in der Gewerkschaftsbewegung Schule machen – dieser Technologie keinen Mann und keinen Groschen!
Der Beitrag erschien zuerst in Avanti, Zeitung des RSB/IV.Internationale, Nr.187, Mai 2011.
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