Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2011
Reformversprechen und scharfe Munition
von Harald Etzbach

Noch Ende Januar erklärte Syriens Präsident Baschar al-Assad in einem langen Interview mit dem Wall Street Journal, warum der Funke der Demokratiebewegungen Nordafrikas nicht auf Syrien überspringen werde. Syrien sei stabil, meinte Assad, die Menschen stünden hinter ihrer Regierung, die im Gegensatz zu den Regimes in Tunis und Kairo niemals die Interessen der USA und anderer westlicher Länder bedient habe.
Nicht einmal zwei Monate später hat sich diese Aussage als Fehleinschätzung erwiesen. Seit Ende März gibt es in Syrien beinahe täglich gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und den staatlichen Sicherheitskräften. Auslöser war ein Vorfall in Daraa, einer Stadt im Süden des Landes. Dort hatten Jugendliche Parolen der tunesischen und ägyptischen Demokratiebewegung an Häuserwände gesprüht und waren deswegen von der Polizei verhaftet worden. Bei einer anschließenden Protestdemonstration schoss die Polizei mit scharfer Munition in die Menge, mehrere Menschen starben.

Diese Ereignisse lösten landesweite Proteste aus, auf die die Sicherheitskräfte mit brutaler Gewalt reagierten, was dann wieder zu neuen Protesten führte. Neben Daraa wurde die Hafenstadt Banias zu einem Brennpunkt der Bewegung, aber auch in der Hauptstadt Damaskus versammelten sich Mitte April Hunderte von Studenten auf dem Campus der Universität, um ihre Solidarität mit den getöteten Demonstranten der Demokratiebewegung zum Ausdruck zu bringen.

So sehr sich Syrien auch von Tunesien und Ägypten, dem Jemen und Bahrain unterscheidet, die Protestursachen ähneln einander: eine tiefe Unzufriedenheit mit einem stagnierenden und repressiven politischen System und eine desolate wirtschaftliche Situation, in der insbesondere die junge Generation immer weniger Perspektiven für sich sieht.

Annäherung an den Westen
Nachdem Baschar al-Assad im Juli 2000 von seinem verstorbenen Vater Hafiz al-Assad das Amt des syrischen Präsidenten und Vorsitzenden der regierenden Baath-Partei geerbt hatte, kündigte er zunächst verschiedene Reformen und eine «Öffnung» des Systems an. Dies blieb jedoch ohne Konsequenzen, es kam lediglich zum Austausch einzelner Personen an der Spitze der Baath-Partei und der Sicherheitsorgane.

Der junge Assad schickte die «alte Garde» seines Vaters in den Ruhestand und besetzte entscheidende Posten mit seinen eigenen Leuten. So wurde etwa Baschars Schwager Asef Schawkat Chef des militärischen Geheimdienstes und Baschars jüngerer Bruder Maher Kommandant der berüchtigten Republikanischen Garde. Auch die Notstandsgesetze, die 1963 nach dem Machtantritt der Baath-Partei beschlossen wurden und gegen die sich der Zorn der Demonstranten in diesen Tagen ganz besonders richtet, blieben in Kraft.

Trotz aller antiwestlichen Rhetorik betreibt Syrien seit Ende der 80er Jahre aber auch eine Politik der Annäherung an den Westen. Deutlich wurde dies bereits bei der syrischen Unterstützung der US-geführten Kriegskoalition während des Golfkriegs 1990/91. Insbesondere wurde aber auch die Annäherung an die Europäische Union vorangetrieben. So nimmt Syrien etwa an einem «Partnerschaftsprogramm» im Rahmen des Barcelona-Prozesses und der europäisch-mediterranen Wirtschaftsintegration teil.

Auch auf ideologischer Ebene kam die syrische Regierung dem Westen entgegen. So beschloss ein Kongress der Baath-Partei 2005 die Streichung des Wortes «sozialistisch» aus dem offiziellen Parteinamen und die formale Abkehr von zentralstaatlicher Planung und die Einführung einer «sozialen Marktwirtschaft».

Wirtschaftskrise
Die syrische Wirtschaft befindet sich indes seit Jahren in einer tiefen Krise, eine Situation, die durch neoliberale «Reformmaßnahmen» der Regierung noch verschärft wurde. So sah der 2006 verabschiedete 10.Fünfjahresplan primär die Stärkung der Rolle des Privatsektors vor. Außerdem sollten ausländische Direktinvestitionen und die Beteiligung des Privatsektors an Exporten gefördert werden. Tatsächlich ist seither die Bedeutung der Privatwirtschaft gewachsen, für 2011 wird ein Anwachsen des Bruttosozialprodukts um 5,5% erwartet, doch hat dies die Lage der Mehrheit der Bevölkerung nicht verbessert.

Im Gegenteil: Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich weiter geöffnet. Dabei lebten nach einem Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) schon in den Jahren 2003/04 5,1 Millionen Syrer (30,1% der Bevölkerung) unter der Armutsgrenze, 2 Millionen Menschen konnten noch nicht einmal ihre grundlegenden Bedürfnisse befriedigen. Verschlimmert wurde die Situation in den letzten Jahren durch den Abbau staatlicher Beihilfen für einige Nahrungsmittel und Energie und durch die zunehmende Wasserknappheit.

Die Arbeitslosenzahlen liegen nach offiziellen Angaben bei etwa 10%, die meisten Beobachter gehen jedoch von doppelt so vielen Arbeitslosen aus. Zugleich strömen jährlich 300.000 junge Menschen und Entlassene aus dem abgebauten öffentlichen Sektor auf den Arbeitsmarkt, Menschen, die so gut wie keine Chance auf einen Arbeitsplatz haben. Etwa 32% der Jugendlichen sind arbeitslos – und das bei einer Bevölkerung, die zu 35% unter 14 Jahre alt ist.

Die neoliberalen Umbaumaßnahmen haben auch dem Großteil der syrischen Kleinunternehmer nicht weitergeholfen, von denen die meisten Kleinstbetriebe – oftmals auf Familienbasis – mit wenigen Angestellten betreiben. Wirklich profitiert haben hingegen Großunternehmer wie Rami Makhlouf, dem Mobilfunkunternehmen, Duty-free-Shops und eine Reihe anderer Firmen gehören. Makhlouf, der als ausgesprochen korrupt gilt, ist ein Cousin des Präsidenten, was ihm in der Vergangenheit immer wieder eine Monopolstellung in verschiedenen Branchen eingebracht hat. Kein Zufall ist es wohl daher, dass bei einer der ersten Demonstrationen in Dahaa nicht nur das Gerichtsgebäude und das örtliche Büro der Baath-Partei, sondern auch die Filiale von Makhloufs Mobiltelefonunternehmen in Flammen aufging.

Reformversprechen
Baschar al-Assad hat in einer Rede vor dem syrischen Parlament am 30.März im Wesentlichen internationale Medien und andere Kräfte aus dem Ausland für die Ereignisse in Syrien verantwortlich gemacht. Zugleich hat er einige Maßnahmen angekündigt, mit denen offensichtlich Teile der Bevölkerung auf die Seite der Regierung gezogen werden sollen.

So wurde am 7.April den etwa 150.000 syrischen Kurden, die zuvor staatenlos waren, endlich die Staatsbürgerschaft verliehen. Außerdem dürfen Lehrerinnen künftig während des Unterrichts den niqab, den Gesichtsschleier, tragen – ein Zugeständnis an islamische Kräfte. Zugleich versprach Assad eine Erhöhung der Löhne und die Einsetzung von «Komitees» zur Planung von Reformmaßnahmen.

Die weitere Entwicklung in Syrien ist offen. Die Regierung ist offenkundig entschlossen, Proteste schnell zu unterdrücken, und die Aktionen der syrischen Demokratiebewegung scheinen bisher nicht die Dimension zu haben, die die Demonstrationen in Tunis und Kairo oder auch im Jemen hatten. Dabei mag die Angst der Menschen vor der Brutalität der staatlichen Repressionsorgane eine wichtige Rolle spielen.

Es darf aber auch nicht übersehen werden, dass die Regierung durchaus Unterstützer hat. Mitglieder religiöser Minderheiten wie Christen, Drusen oder Alewiten (eine schiitische Sekte, der auch der Assad-Clan angehört) befürchten eine Dominanz der sunnitischen Mehrheit, sollte die laizistische Baath-Partei die Macht verlieren. Auch die sunnitische Mittelschicht und die Angehörigen des öffentlichen Sektors sind mit dem Regime verbunden.

Schließlich scheint auch außerhalb des Landes so mancher, von dem man es eher nicht erwarten würde, der «Stabilität», die das Assad-Regime verspricht, einiges abgewinnen zu können. In Israel wurden die arabischen Demokratiebewegungen bezeichnenderweise bisher nicht mit Enthusiasmus begrüßt. Wenn das Assad-Regime auch immer ein Gegner Israels war, so war es doch kalkulierbar. Im Libanon übte es sogar einen mäßigenden Einfluss auf die Hisbollah aus. Mit einer neuen, vielleicht sogar demokratisch gewählten, Regierung in Damaskus würden hingegen die Karten auf unvorhersehbare Weise neu gemischt. Israel würde vielleicht ein weiteres Mal seinen Status als (angebliche) «einzige Demokratie des Nahen Ostens» verlieren.

Ähnlich scheint dies die US-Regierung zu sehen. Zwar werden die Ausschreitungen gegen Demonstranten immer wieder scharf verurteilt, aber noch im März erklärte Außenministerin Clinton, verschiedene US-Abgeordnete hätten Syrien besucht und sähen in Assad einen «Reformer». Auch einen internationalen Konsens für eine Intervention in Syrien werde es nicht geben.

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