Klaus Gietinger, 90 Jahre Aufstand von Kronstadt (SoZ 4/2011)
von Meinhard Creydt
Klaus Gietinger nimmt Partei für die Kronstädter Aufständischen von 1921. Michael Schneider spricht von den Kronstädter Matrosen als «den Sturm- und Elitetruppen des Oktoberumsturzes», die nun, 1921, «von Lenin und Trotzki als Konterrevolutionäre gebrandmarkt wurden."
"Dabei bestand das ‹Verbrechen› der Kronstädter Matrosen einzig darin, dass sie die basisdemokratischen Prinzipien der Sowjetdemokratie gegen die sich herausschälende bolschewistische Parteidiktatur zu verteidigen suchten» (Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr.3/2010).
Gietinger und Schneider blenden in ihrer Beurteilung von Kronstadt 1921 die von Bürgerkrieg und vom Krieg gegen antisowjetische ausländische Interventionsarmeen geprägte Situation in den ersten Jahren der Sowjetunion aus. Die wirklichkeitsfremde These, die Kronstädter Aufständischen von 1921 seien dieselben, die 1917 so vehement die Revolution unterstützt hatten, verrät den Vorstellungshorizont jener, die so daherreden.
Bundeswehr-Berufssoldaten altern in ihrer Kaserne friedlich vor sich hin und können gegenwärtig allenfalls beim Manöver oder beim Afghanistaneinsatz Pech haben. Anders die Kronstädter Soldaten von 1917. Sie «waren nicht mehr, was sie einst waren, und standen nicht mehr dort, wo sie einst standen. Die Besten waren ungekommen; andere waren vollauf mit Verwaltungsaufgaben beschäftigt … Die Mannschaften der ‹Aurora›, der ‹Petropawlowsk› und anderer berühmter Kriegsschiffe, bestanden jetzt [1921] aus jungen Rekruten, die unter den ukrainischen Bauern ausgehoben worden waren.» (Isaac Deutscher, Trotzki, Bd.I, Stuttgart 1972, S.480.)
Heutige Befürworter des Kronstadt-Aufstandes hätten die Frage zu beantworten, warum sich gerade auch vehemente Kritiker von Lenin und Trotzki der Bekämpfung des Kronstadt-Aufstandes anschlossen. «Selbst Führer der Arbeiteropposition und der Dezisten, die auf dem Kongress [X.Parteitag 1921] noch Forderungen erhoben hatten, die sich nicht wesentlich von denen der Rebellen unterschieden, zogen in die Schlacht. Auch sie glaubten, dass die Matrosen kein Recht hatten, mit der Hand am Gewehrabzug selbst die berechtigsten Forderungen zu diktieren.» (Ebd., S.481.) Auch die rätekommunistische Linksabspaltung der KPD (die KAPD) sah zur Niederschlagung des Kronstadtaufstandes keine Alternative.
Gewiss war auf der Seite der Bolschewiki schon in der Darstellung der Kronstädter Aufständischen Propaganda im Spiel. In der Zeitschrift Ergebnisse und Perspektiven (Nr.8, 1979) des trotzkistischen Spartacusbundes heißt es: «Die Bolschewiki werden in erster Linie dem subjektiven Charakter der Aufständischen nicht gerecht … Hinter der Revolution in Kronstadt stand keinerlei Angriffsplan, und schon gar nicht einer der Weißen. Die Aufständischen hätten in den ersten Tagen ohne weiteres die Möglichkeit gehabt, von Kronstadt aus andere Forts an der Küste, z.B. Oranienburg, zu besetzen. Das haben sie nicht getan. Wenn die bolschewistische Presse vor einem geplanten Luftangriff der Kronstädter auf Petrograd warnte, so entsprach dies einfach nicht der realen Lage der Dinge.»
Michael Schneider schreibt den Aufständischen das Engagement für «die basisdemokratischen Prinzipien der Sowjetdemokratie» zu. Ein so vehementer Kritiker der Bolschewisten wie Victor Serge weist auf die Problematik der Kronstädter Forderungen hin.
«[D]as Land war völlig erschöpft, die Produktion stand völlig still, es gab keine Reserven irgendwelcher Art mehr, nicht einmal Reserven an Nervenstärke in der Seele der Massen. Die Elite des Proletariats, die in den Kämpfen mit dem Zarenregime geprägt worden war, war buchstäblich dezimiert. Die Partei, die durch den Zulauf derer, die sich mit der Macht ausgesöhnt hatten, angewachsen war, flößte wenig Vertrauen ein. Von den anderen Parteien waren nur noch winzige Kader von mehr als zweifelhafter Fähigkeit vorhanden … Der sowjetischen Demokratie fehlte es an Schwung, an Köpfen, an Organisationen, und hinter sich hatten sie nur ausgehungerte und verzweifelte Massen. Die Konterrevolution des Volkes übersetzte die [von den Kronstädter Aufständischen aufgestellte] Forderung freigewählter Sowjets durch die der ‹Sowjets ohne Kommunisten›. Wenn die Diktatur fiel, so bedeutete das in Kürze das Chaos, und durch das Chaos hindurch das Vordringen der Bauern, das Massaker der Kommunisten, die Rückkehr der Emigranten und am Ende durch die Macht der Umstände eine andere, antiproletarische Diktatur … ‹Trotz ihrer Fehler und Missbräuche›, habe ich geschrieben, ‹ist die bolschewistische Partei in diesem Augenblick die große organisierte, intelligente und sichere Macht, zu der wir trotz allem Vertrauen haben müssen. Die Revolution hat kein anderes Gerüst…›» (Victor Serge, Erinnerungen eines Revolutionärs 1901–1941, Hamburg 1977, S.147–148.)
Die zweibändige Dokumentensammlung Die Kronstädter Tragödie von 1921 (Moskau 1999) enthält vielfältige neue Informationen, die eine progressive Vereinnahmung des Kronstädter Geschehens massiv in Frage stellen. Es geht mir nicht darum, die Politik von Lenin und Trotzki gutzuheißen, sondern um die Bedingungen ihrer Beurteilbarkeit. Für einen Advokaten mag es reichen, alle Argumente aufzulisten, die gegen die Gegenseite sprechen. Eine historisch angemessene Analyse ist etwas anderes. Zur Machart der seit Jahrzehnten gebetsmühlenhaft wiederholten Beanspruchung von Kronstadt als eindeutigem Symbol für den «Niedergang der Oktoberrevolution» (Gietinger) gehört die selbstgenügsame Weigerung, Kenntnis zu nehmen von den historischen Gegenargumenten und den Ambivalenzen in den Positionen der Bolschewiki vor der Stalinisierung der Partei.
Vgl. die zusammenfassende Analyse und Interpretation in der hardcoretrotzkistischen Zeitung Spartacist Nr.25, 2006. Hier finden sich auch weitere interessante Literaturhinweise (www.icl-fi.org/deutsch/dsp/25/ kronstadt.html); vgl. auch Ernest Mandel, Oktober 1917. Staatsstreich oder soziale Revolution, Köln (ISP) 1992, und ders., Macht und Geld. Eine marxistische Theorie der Bürokratie, Köln (Neuer ISP Verlag) 2000.
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