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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2011
Omeyya Seddik über die Lage in Tunesien, die Flüchtlinge und die Beziehungen zu Europa
Interview mit Angela Huemer

Der Tunesier Omeyya Seddik ist Politologe und Teil der Fédération des Tunisiens pour une Citoyenneté des deux Rives (FTCR). Diese Nichtregierungsorganisation gibt es seit den 70er Jahren. Anfangs hieß sie «Vereinigung der tunesischen Arbeitsmigranten», zu Beginn der 90er Jahre änderten sie ihren Namen. Die FTCR bearbeitet Themen wie Diskriminierung, Immigration, Sozialforen, Gesundheit und die Lage in den Pariser Vorstädten. Ihr vorherrschendes Anliegen ist die Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen dem nördlichen und dem südlichen Ufer des Mittelmeeres.
Omeyya Seddik hat mehr als 20 Jahre in Frankreich in Exil gelebt. Noch als die Revolution in Tunesien im Gange war, reiste er in seine Heimat und beschloss, wieder ganz dorthin zurückzukehren.

Wie ist die Lage in Tunesien derzeit?

Schwierig und prekär, da man immer noch damit beschäftigt ist, Institutionen zu schaffen, die die Errungenschaften der Revolution schützen. Noch gestalten sich die Kräfteverhältnisse schwierig, viele Elemente des diktatorischen Regimes sind noch aktiv. Ben Alis Diktatur basierte auf einem sehr großen Sicherheitsapparat, der immer noch in Funktion ist, er wurde zwar geteilt, jedoch noch nicht neu strukturiert.

Betrifft das die Polizei oder das Militär?

Sowohl als auch. Tunesien war aber eine Ausnahme in der Region, die Polizei war wichtiger als das Militär – was Größe, Budget und Schlagkraft anbelangt. Ben Alis Diktatur war eher eine Polizei- als eine Militärdiktatur.

Es besteht immer noch das Risiko, dass es Versuche geben wird, das Rad zurück zu drehen, oder zumindest den demokratischen Prozess zu stoppen. Doch die Dynamik in der Bevölkerung und die Bemühungen, Institutionen zu schaffen, die eine Rückkehr zur Diktatur unmöglich machen, sind groß.

Wie sieht das konkret aus?

Es gibt eine provisorische Regierung, die jedoch noch nicht gewählt ist. Sie besteht aus Technokraten und verwaltet das Land, auch auf ökonomischer Ebene, sie sorgt also dafür, dass kein Chaos ausbricht – einige der Regierungsmitglieder gehörten jedoch dem alten Regime an. Diese Regierung wird sehr genau beobachtet, sowohl von der Bevölkerung als auch von einer neuen Institution, die sich «Rat für die Verteidigung der Ziele der Revolution» nennt und das aufgelöste Parlament ersetzt. In diesem Rat sitzen Vertreter der sozialen Bewegungen, der Gewerkschaften und der ehemaligen Oppositionsparteien. Dieser Rat bereitet die Wahlen am 24.Juli vor.

All das spielt sich in einem sehr schwierigen sozialen und politischen Umfeld ab, denn die wirtschaftliche Lage könnte katastrophal werden. Tunesien ist ein Land, das nicht über sehr viele natürliche Ressourcen verfügt und wirtschaftlich sehr stark vom Ausland abhängt, vor allem von Europa. Es gibt nur wenige Industriebetriebe, die für den Export produzieren, ein wichtiger Faktor ist der Tourismus – doch der ist stark zurückgegangen, trotz der enormen Bemühungen, ein wenig davon zu retten.

Viele fragen sich, warum Tunesier jetzt fliehen, wo nach außen hin die Revolution so gut wie vorbei ist?

Da spielt die oben genannte wirtschaftliche Lage eine Rolle. Der Großteil derer, die in den ersten Wochen geflohen sind, rund 10000, kam vor allem aus dem Süden des Landes. Und der lebt fast ausschließlich vom Handel mit Libyen und vom Tourismus. Eine Rolle spielt auch das Fehlen von Sicherheitskräften und die Tatsache, dass seit rund eineinhalb Jahren der Fluchtweg von Libyen nach Italien durch das Abkommen der beiden Länder blockiert war. Viele Auswanderungswillige haben also gewartet, oder schwierigere Routen gewählt – über Griechenland und die Türkei.

Zu Zeiten Ben Alis war die Ausreise aus Tunesien aus zwei Gründen sehr schwierig: Es gab intensive Polizeikontrollen, Emigration war ein Delikt, das durch ein Abkommen Ben Alis mit Europa eingeführt und mit Gefängnis bestraft wurde. Die Tunesier fuhren also nicht aus Tunesien los, sondern gingen nach Libyen und flohen von dort aus.

Wir waren in den Gegenden, von denen die Leute jetzt geflohen sind. Sie waren froh über die Revolution, aber als es vorbei war, stand das wirtschaftliche Überleben im Vordergrund. Die Familien sagten zu den Jugendlichen, schön und gut, dass ihr euch aufgelehnt habt, aber wie sollen wir jetzt essen, wovon sollen wir leben? Im Weggehen sahen viele eine Fortsetzung der Revolution.

Im Februar war ich auf Lampedusa. Die Leute, die ich dort traf, waren teilweise sehr jung, viele hatten an der Revolution teilgenommen und erzählten, dass sie nun 2–3 Jahre irgendwo arbeiten und dann mit einer anderen wirtschaftlichen Perspektive in das neue Tunesien zurückkehren wollen.

Wie schwierig ist die legale Einreise nach Europa?

Wenn man nicht reich ist, ist es fast unmöglich. Ein Beispiel. Unter den Flüchtlingen auf Lampedusa, die ich im Februar getroffen habe, waren drei, die eine Aufenthaltserlaubnis für Frankreich hatten. Seit Jahren hatten sie vergeblich versucht, ihre Familien zu sich zu holen. Und nun, als es einfach wurde loszufahren, reisten sie von Frankreich nach Tunesien, holten ihre Frauen und kamen dann per Flüchtlingsboot nach Lampedusa. Es ist leichter geworden, das Leben auf einer Überfahrt zu riskieren, als auf legale Weise eine Familienzusammenführung zu erreichen.

Gibt es auch welche unter den Migranten, die einfach nur reisen wollen?

Ja, es gibt von allem ein wenig. Ich habe ganz junge Männer getroffen, für die Demokratie und Freiheit bedeutet, weggehen zu können und wieder zurückzukehren. Und wir sind der Meinung, dass sie Recht haben. Teil des demokratischen Prozesses muss auch die Ebenbürtigkeit in den internationalen Beziehungen sein. Dazu gehört Reisefreiheit – auch für Tunesier.

Fehlen denn die jungen Leute nicht beim Aufbau des neuen Tunesien?

Es ist zu bedenken, dass, im Gegensatz zu Europa, 70% der Bevölkerung jünger als 29 Jahre alt sind; in Europa ist das genau umgekehrt, zumindest in Italien. Dieses demographische Ungleichgewicht ist eine Erklärung für die Migrationsströme. Gleichzeitig gibt es einen Arbeitskräftemangel in Europa, und die Migranten finden hier auch Arbeit. Die Tatsache, dass Leute weggehen, heißt nicht, dass sie fliehen, es heißt, dass sie sich ein Leben aufbauen, das ihnen erlaubt zurückzukehren, zu helfen.

In letzter Zeit wird in Tunesien viel gestreikt, was will man damit erreichen?

Viele protestieren damit gegen ihre schlechten Arbeitsbedingungen, was sie unter Ben Ali nicht konnten. Denn für viele Menschen wäre die demokratische Revolution unbedeutend, wenn sich dadurch ihre Lebensumstände nicht verbessern würden. Das Problem ist die aktuelle schwierige wirtschaftliche Lage. In den letzten Wochen gibt es vermehrt Stimmen, die sagen, es ist nicht der richtige Zeitpunkt für Streikaktionen, man sollte damit warten. Es gibt jedoch auch Streiks, die sich dagegen wenden, dass in den Firmen immer noch die Leute was zu sagen haben, die enge Verbindungen mit dem alten Regime hatten.

Am 5.April haben Tunesien und Italien ein Abkommen zur Regulierung der irregulären Migration abgeschlossen. Wie beurteilen Sie dieses Abkommen und wie kam es zustande?

Das ist sehr komplex. Zu Beginn meinten Silvio Berlusconi, Innenminister Maroni und Außenminister Frattini, dass sie das Ganze wie zu Zeiten von Ben Ali regeln können, d.h. auf nahezu neokoloniale Weise, durch Geld und Drohungen. Das war nicht möglich, denn, wie ich vorhin erwähnte, die Regierung ist schwach, nicht vom Volk gewählt, und so war etwas möglich, was zu Zeiten von Ben Ali nicht möglich war: eine öffentliche Kampagne, damit die Regierung die Bedingungen der Italiener nicht akzeptiert. Anfangs war die italienische Regierung ziemlich überrascht, als ihr Anliegen, massenhaft Tunesier abzuschieben, abgelehnt wurde.

Wie sah diese Kampagne aus?

Wir haben demonstriert, und es gab eine sehr starke Medienkampagne, wie sie zuvor nicht möglich war, da die Medien vollkommen kontrolliert waren. Später gab es weitere Verhandlungen zwischen Italien und Tunesien und man erreichte, dass den Tunesiern eine temporäre Aufenthaltsgenehmigung erteilt wird – was das Abkommen sonst noch enthält, wissen wir noch nicht, wir arbeiten jedoch daran, es herauszufinden.

Es ist also nicht veröffentlicht worden?

Nein, und daher sind wir der Ansicht, dass wir dieses Abkommen nicht anerkennen müssen. Konkret hat es Italien erlaubt, zweimal täglich je 30 Personen nach Tunesien abzuschieben.

Wie wird Europa derzeit in Tunesien wahrgenommen?

Die Tunesier sind der Ansicht, dass Europa seit jeher ein starker Rückhalt für unsere Diktaturen war, Ben Ali, Gaddafi und die anderen. Sowohl Italien als auch Frankreich waren bis zum letzten Moment die wichtigsten Wirtschaftspartner dieser Regimes, und nun dachten wir, dass sich die Dinge ändern würden. Stattdessen sehen wir – trotz anders lautender Bekenntnisse – dass Europa alles tut, die weitere demokratische Entwicklung zu verhindern. Die Frage der Emigration ist bezeichnend dafür, denn eigentlich wird hier konkret eine Erpressung versucht: Wir helfen euch nicht, wenn ihr nicht dasselbe tut wie zuvor Ben Ali [d.h. die Emigration zu blockieren] – wohl wissend, dass das in einem demokratischen Umfeld nicht möglich ist.

Was könnte denn Europa Positives tun, um den demokratischen Prozess zu unterstützen?

Erst einmal soll allen, die jetzt ankommen, ein humanitärer Aufnahmestatus gegeben werden, gemäß einer EU-Direktive von 2001, wonach die Leute in Europa reisen und arbeiten können. Darüber hinaus finden wir, dass es an der Zeit ist, die Beziehungen zwischen Europa und Tunesien, die bislang vollkommen unausgeglichen waren – nicht nur auf der Ebene der Migration, sondern auch auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene – neu zu definieren. Wir meinen, dass es auch für Europa von Interesse ist, ausgewogenere politische und wirtschaftliche Beziehungen mit den Nachbarn südlich des Mittelmeers zu unterhalten.

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