von Paul B. Kleiser
Die großen Umbrüche in der arabischen Region mit dem Sturz zweier Diktaturen und den Massenmobilisierungen in Bahrain, im Jemen und in Syrien haben auch deutliche Auswirkungen auf Israel und Palästina.
Der in Ägypten geschlossene «Versöhnungsvertrag» zwischen der Fatah, die die Westbank «regiert», und der Gaza kontrollierenden Hamas hat mit einer Änderung in der ägyptischen Außenpolitik seit dem Sturz Mubaraks, aber auch mit dem Massendruck aus Palästina selbst für die Einheit der Palästinenser zu tun. Die Gelegenheit scheint günstig, im September einen unabhängigen palästinensischen Staat auszurufen. Israel hat umgehend mit verstärkter Repression und dem Einfrieren von Konten der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) reagiert.
Das ist der politische Hintergrund, vor dem eine private Reisegruppe im April dieses Jahres nach Israel/Palästina gefahren ist. Schon im Flugzeug treffen wir Marcus Vetter, den Regisseur des Films Das Herz von Jenin, und seinen palästinensischen Freund, die sich um das mittlerweile berühmt gewordene Kino von Jenin kümmern. Sie werden beide bei der Grenzkontrolle langen «Befragungen» unterzogen.
Im Flughafengebäude von Tel Aviv hängen zahlreiche Plakate aus der Zeit der israelischen Staatsgründung und der «Aufbauphase». Sieht man über die hebräischen Schriftzeichen (und die zionistische Geschichtsmythologie) hinweg, könnte man meinen, der Ostblock sei wiedererstanden. Vor dem Flughafen steht eine Bronzestatue des «Staatsgründers» Ben Gurion und ein riesiger siebenarmiger Leuchter des Faschistenfreundes Salvador Dalí; die ganze Situation hat etwas Surreales.
Ramallah
Unsere erste Station gilt Ramallah, der Hauptstadt der Westbank. Wir quartieren uns im Hotel Aladdin ein. Es gehört einem palästinensischen Ehepaar, das lange in den USA gelebt hat. (Von den gut 8 Millionen Palästinensern leben über die Hälfte im Exil.) Vor der Tür steht nicht nur ein Mercedes, sondern auch ein flotter «Ami-Schlitten» mit einem Kennzeichen aus Tennessee.
Die quirlige Doppelstadt Ramallah/ Al-Bireh mit ihren gut 70000 Einwohnern – teilweise auch Bethlehem – stehen für den palästinensischen Aufbruch. Die auf fast 900 m Höhe gelegene, nur 16,5 km von Jerusalem entfernte Stadt wurde vor 500 Jahren von Christen errichtet, die aus der Region östlich des Jordans vertrieben worden waren. Seit Jahrzehnten kommen im Sommer Menschen aus arabischen Ländern in diese Stadt, um als Sommerfrischler der Hitze zu entfliehen.
2005 wurde (gegen die Kandidaten der Fatah und der Hamas) eine Christin zur Bürgermeisterin gewählt, obwohl höchstens 10% der Bevölkerung Christen sind. Überall wird nun gebaut, und Architekten aus vielen Ländern können sich hier austoben, so dass teilweise ultramoderne Gebäude entstehen. Vor wenigen Monaten wurde ein riesiges Mövenpick-Hotel eröffnet.
Ramallah ist (anstelle von Jericho, das zunächst ausersehen war) Sitz der PA. Es beherbergt auch das Mausoleum von Arafat mit großem Steinkubus und Ehrenwache. 2002 hatten die Israelis unter der Regierung Sharon den Regierungssitz, die Muqata’a, mit Panzern beschossen und erst aufgrund einer US-Intervention vor der völligen Zerstörung (und Ermordung Arafats und seiner Getreuen) Halt gemacht. Inzwischen sind die Spuren des Angriffs beseitigt, der ganze Stadtteil wird mit allem Pomp zum Regierungsviertel um- und ausgebaut.
Wir besuchen die Menschenrechtsorganisation Al-Haq (das Recht). Hier bekommen wir eine Ahnung, mit welchen riesigen Problemen sich die Menschen aufgrund der israelischen Besatzung, der Willkür der Militärverwaltung, der Grenzmauer und -zäune, des Siedlungsbaus und der Beanspruchung fast allen Wassers durch die Zionisten herumschlagen müssen. Vor allem durch den Bau der Mauer wurden viele Äcker nahezu unzugänglich, Tausende von Ölbäumen wurden ausgerissen, fast jedes Jahr werden mehrere tausend Palästinenserhäuser, ja manchmal ganze Dörfer zerstört. (Jeff Halper listet sie in seinem neuen Buch «Ein Israeli in Palästina» auf.)
Das Ziel der israelischen Regierung ist nicht Frieden, sondern die Annektierung des Landes bis zum Jordan, wie im Allon-Plan von 1967 vorgegeben. Da man die Palästinenser nicht wie 1948 einfach vertreiben kann, wird ihnen das Leben so schwer wie möglich gemacht, damit sie zermürbt und entmutigt von alleine das Land verlassen. Al-Haq kümmert sich aber nicht nur um die Probleme mit den Israelis, sondern auch um Rechtsfragen, die bei der Entwicklung der Gesetzgebung durch die PA entstehen.
Die Situation der Frauen
Der "Palestinian Working Women Society for Development" gilt unser nächster Besuch. Die Direktorin schildert uns die Lage der Frauen in den besetzten Gebieten.
Drei Problemkreise bilden ein schwer zu entwirrendes Knäuel: die traditionelle Unterordnung der Frauen unter die Männer in der arabischen Gesellschaft, die israelische Besatzung, die diese Struktur häufig zu ihren Gunsten ausnutzt, und die große Armut der Mehrheit der (zumeist kinderreichen) Familien. Schulen verlangen Schulgeld und Gebühren, das bedeutet, dass die Familien häufig nur Jungen zur Ausbildung schicken und die Mädchen sehr jung verheiratet werden. Doch die Direktorin sagt auch, die Frauen hätten seit der ersten Intifada (1987–1989) deutlich aufgeholt, in der Westbank würde heute über die Hälfte der Mädchen Abitur machen. Mehr und mehr Frauen würden berufstätig und eroberten sich nach und nach auch Führungspositionen.
Durch die Intifada wurden Tausende von Männern verhaftet (ca. 650.000 der etwa 3,5 Millionen Palästinenser der Westbank und des Gaza-Streifens saßen bislang mehr oder weniger lang in israelischen Gefängnissen), die Frauen mussten an ihre Stelle treten. Nach der Rückkehr der Männer kam es zu harten Konflikten um Arbeitsplätze und Rollen, zunehmend seien Frauen aber nicht mehr nur Lehrerinnen oder Sozialarbeiterinnen, sondern auch in «Männerberufen» in der Wirtschaft tätig. Die PWWSFD kämpfe an allen Fronten gegen die Besatzung und für die Durchsetzung von Frauenrechten.
Wir fahren zu einer von ihr betreuten Kooperative aufs Land nach El Silya; ringsum sind auf den Hügeln israelische Siedlungen und Straßen zu sehen, auf denen nur Israelis fahren dürfen. Durch den Landraub der Siedler hat El Silya etwa zwei Drittel seiner bebaubaren Fläche verloren. Die Bauernfamilien können immer weniger anbauen und sind häufig massiv verarmt. Die Kooperative versucht, sich durch den Verkauf von traditionellen Handarbeiten und selbst hergestellter Olivenölseife ein Zubrot zu verdienen. Investitionen sind schwierig, weil nur mit größter Mühe (wenn überhaupt) an Kredite heranzukommen ist.
Im Flüchtlingslager
Wir fahren ins Flüchtlingslager Qalandya, wo unser Reiseleiter Fuad geboren wurde. Die 8–9 m hohe graue Mauer mit ihrem massiven Kontrollturm ist voller Graffiti. Weithin sichtbar sind die gesprühten Bilder von Arafat und Barghuti.
Zunächst müssen wir durch einen Checkpoint, der einem US-amerikanischen Viehpferch gleicht. Man kann sich leicht vorstellen, welche Qualen Palästinenser erleiden, wenn sie im Sommer bei Bullenhitze mit ihren Kindern stundenlang in diesen Blechbauten anstehen müssen, nur weil es den Israelis gerade gefällt, sie schmoren zu lassen. Checkpoints sind Orte der Willkür, der Demütigung und Erniedrigung und von ungezählten Menschenrechtsverletzungen – ein Symbol für den Rassismus des zionistischen Staates! Es gibt aber auch die Checkpoint Watchers – engagierte israelische Frauen und Männer, die das Geschehen vor Ort beobachten und versuchen, die Vergehen zu dokumentieren und ins Netz zu stellen (z.B. Todesfälle, weil schwer Kranke nicht durchgelassen werden, oder Fehlgeburten von schwangeren Frauen); in gravierenden Fällen informieren sie die Öffentlichkeit.
Die zahlreichen, über das Land verteilten Lager stehen unter der Aufsicht der UNO. Etwa 40% der Bewohner der Westbank sind – 63 Jahre nach der Vertreibung! – Flüchtlinge (in Gaza sind es sogar 80%!). Sie haben nur wenig Platz, sodass die Festbauten, die im Lauf der Zeit entstanden sind, mit jeder Generation um ein Stockwerk höher werden. An vielen Stellen gibt es Graffiti, die die palästinensische Identität betonen und die Besatzer geißeln. Die einzige Freifläche ist ein Bolzplatz neben einer Schule, der mit deutschem Geld errichtet wurde, damit die Jugendlichen sich abseits der Straßen ein bisschen bewegen können.
Hebron, Gräber und Siedler
Hebron ist wohl die größte und konservativste palästinensische Stadt. Hier findet man die Gräber der Patriarchen Abraham und Isaak mit ihren Frauen Sara und Rebekka. Sie gelten als Stammväter bzw. -mütter aller drei monotheistischen Religionen.
Die Gräber sind geteilt, Abraham befindet sich auf der israelisch kontrollierten Seite des Bauwerks, Isaak auf der muslimischen. In dieser Moschee veranstaltete 1994 der zionistische Arzt Goldstein ein Massaker, bei dem 29 Menschen ermordet und einige Dutzend verletzt wurden, bevor er dann erstochen wurde. Von den Siedlern verehren ihn viele als Märtyrer…
In der Mitte der Stadt haben sich etwa 700 Siedler einquartiert, «geschützt» durch Stacheldraht und israelische Wachposten mit MGs im Anschlag. Die Lage ist ziemlich gespannt. Da die Siedler ihren ganzen Müll auf die Araber herunterwerfen, haben diese über ihren Gassen Netze aufgespannt. Auch um die Stadt herum gibt es jüdische Siedlungen.
Als wir die Grabmäler besuchen, ist gerade der israelische Tourismusminister Katz zu Gast, der (natürlich auf palästinensischem Gebiet!) eine Straße eingeweiht hat und nun mit seiner Entourage ein publikumswirksames Gebet murmeln möchte. Überall stehen bis an die Zähne bewaffnete Soldaten und Sicherheitsleute herum. Auch ein deutscher Jude ist dabei; ich erkläre ihm, dass er sich nach deutschem Recht strafbar macht, wenn er sich im Dienste eines anderen Staates (auch noch als Besatzer) bewaffnet engagiert.
Die Mauer und der Landraub
Im grenznahen Tulkarem hat die «Trennmauer» besonders einschneidende Auswirkungen, weil sie viele Bauern von ihren Grundstücken abschneidet. Wir besuchen eine Bauernfamilie direkt an der Mauer. Eigentlich wollen die Israelis vor der Mauer eine Freifläche von 250 m als «free fire zone» schaffen. Sie führen seit Jahren einen Kleinkrieg gegen die Bauernfamilie, doch bislang konnte die Familie (auch dank internationaler Unterstützung) nicht vertrieben werden.
Zeitweilig bauten Soldaten einen Stacheldrahtzaun, um die Familie am Betreten ihres Grundstücks zu hindern, doch in der Mittagspause schnitten sie oder ihre Helfer ihn immer wieder auf, um auf die Felder zu gelangen und ihre Landarbeit zu verrichten. Der Bauer hat, gleich unzähligen anderen, lange Jahre in israelischen Gefängnissen verbracht, weil er passiven Widerstand leistete, nützte diese Zeit jedoch, um Hebräisch zu lernen und mit den Soldaten zu diskutieren und ihre Pläne zu erfahren.
Direkt neben dem Hof befindet sich (auf palästinensischem Gebiet, von einer hohen Mauer umgeben) eine Lack produzierende israelische Chemiefabrik. Früher hatte sie ihren Sitz nördlich von Tel Aviv, aber aufgrund zahlreicher Einsprüche der Anwohner wegen häufiger Atemwegserkrankungen verfügte der Oberste Gerichtshof, die Fabrik müsse geschlossen werden. Also baute man sie in der Nähe von Tulkarem wieder auf. Natürlich blieb die Umweltbelastung dieselbe, sodass die Produktion nur laufen kann, wenn Westwind weht, der den Dreck über die Westbank verteilt. Dreht der Wind mal zufällig auf Ost, würde er die israelische Bevölkerung gefährden, dann muss die Produktion abgebrochen werden. Diese Fabrik beschreibt exakt das Verhältnis zwischen Israel und Palästina.
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