Deutschland behauptet, am Krieg gegen Libyen nicht beteiligt zu sein, deckt ihn aber politisch wie militärisch.
Dass in der bürgerlichen Gesellschaft das Recht als vermeintlich neutrales Mittel zur Herstellung von Konsens gebraucht wird, gilt zumindest in linksradikalen Theoriezirkeln als hinlänglich bekannt, weshalb man sich damit nicht befassen müsse.
Ein Evergreen kolonialistischer Politik, die humanitäre Intervention, scheint nun die Waffe der linken Kritik zum Verstummen zu bringen: Wiederaufblühender Militarismus bestimmt die internationale Politik, wir werden mit Maßnahmen konfrontiert, die von der militärischen Intervention zur gewaltsamen Durchsetzung eines Regimewechsels bis zur Etablierung der EU als neue Sanktionsinstanz reichen. In der Friedensbewegung ist um das Für und Wider einer humanitären Intervention eine heftige Auseinandersetzung entbrannt, einige sehen in ihr das kleinere Übel angesichts gravierender Not (siehe Elfenbeinküste und Libyen).
Dabei treten die Widersprüche zwischen einer «wertegeleiteten Außenpolitik», auf die sich nicht nur die CDU/CSU beruft, und den Interessen des Westens bei den jüngsten Resolutionen des UN-Sicherheitsrats vom 18.März (1973, zu Libyen) und vom 30.März (1975, zur Elfenbeinküste) unverhüllt an die Oberfläche. Sie spiegeln sich auch im außenpolitischen Salto mortale der Bundesrepublik Deutschland: einerseits leistet sie einen aktiven Beitrag zur Eskalation der Gewalt, andererseits inszeniert sie medial ihrer Nichtbeteiligung am Krieg.
Wir wissen von nichts
In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Sevim Dagdelen (Linksfraktion) zu den «Hintergründen des bewaffneten Einsatzes [der NATO] in Libyen» gab die Bundesregierung an, «keine detaillierten Informationen über Angriffe der libyschen Luftwaffe auf Zivilisten» zu besitzen. Dies überrascht, genehmigt doch die Resolution 1973 den Einsatz militärischer Gewalt, um die «ausgedehnten und systematischen Angriffe gegen die Zivilbevölkerung, [die] möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen» zu unterbinden.
Der Bundesregierung lägen auch keine Erkenntnisse über den Einsatz von Zivilisten als lebende Schutzschilder durch regierungstreue Truppen vor. In der Resolution 1973 hat die UNO zum ersten Mal bei einem Beschluss über militärische Gewaltmaßnahmen nach Kapitel VII von der Begründung der Bedrohung des internationalen Friedens abgesehen. Dies ist nicht zu unterschätzen. Immerhin feiern Befürworter der militärischen Intervention die Resolution 1973 als Durchbruch für das Konzept «Verantwortung zum Schutz» (Responsibility to Protect), das völkerrechtlich auf wackligen Füßen steht.
Die «Bedrohung des internationalen Friedens» ist nach Art.39 UN-Charta zwingend Voraussetzung, um die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen mit Luft-, See- oder Landstreitkräften durchzuführen.
Bruch des Friedens?
Direkt darauf angesprochen, antwortete der Bundesregierung, sie vermute eine solche Bedrohung vor allem in der Entwicklung der innerstaatlichen Lage, namentlich um «den Schutz der Zivilpersonen und der von der Zivilbevölkerung bewohnten Gebiete sowie den raschen und ungehinderten Durchlass humanitärer Hilfe und die Sicherheit der humanitären Hilfe zu gewährleisten». Doch wie soll etwas gewährleistet werden, was anscheinend gar nicht vorliegt, da diesbezügliche Tatsachen weder in der Resolution selbst festgestellt, noch durch die Bundesregierung benannt werden?
Mit anderen Worten: Worin liegt der Bruch des Friedens, auf dessen Wiederherstellung nun seit knapp zwei Monaten NATO-Bomben, unterstützt durch deutsche Marineeinheiten und AWACS-Besatzungen hinwirken?
Die Bundesregierung vermutet «unter den über Libyen hinausreichenden Gründen, die den Sicherheitsrat in seinen Verhandlungen zur Resolution 1973 leiteten», auch eine Gefährdung des internationalen Friedens durch die «große Zahl der Flüchtlinge mit ihrer potenziell destabilisierenden Wirkung auf die Nachbarländer, der Einsatz ausländischer Söldner durch das Gaddafi-Regime sowie die Bedrohung der zahlreichen ausländischen Staatsbürger in Libyen».
Gleichzeitig stellt sie jedoch in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage fest: «Massive Migrationsbewegungen unmittelbar aus Libyen nach Europa sind gegenwärtig nicht festzustellen und zwar weder von libyschen Staatsangehörigen noch von Angehörigen anderer Staaten … Hierüber sind derzeit keine verlässlichen Prognosen möglich.»
Die Schwierigkeiten der Bundesregierung, die Legitimität der UN-Resolution 1973 zu begründen, werden auch an anderen Stellen sichtbar – etwa wenn sie behauptet, die libysche Luftwaffe habe sich nicht an einen zugesagten Waffenstillstand gehalten oder sei überhaupt flächendeckend und systematisch zur Bombardierung von Zivilisten eingesetzt worden. Dabei gibt die Bundesregierung zu, dass es bislang nur ein Kampfjet war, und zwar der bewaffneten Opposition, der sich nicht an die eingerichtete Flugverbotszone gehalten hat, und deshalb am 9.April von NATO-Kampfflugzeugen abgefangen und zur Landung gezwungen wurde.
Die Bundesregierung will keine Informationen über zivile Opfer der NATO-Bombardements besitzen und verweist gutgläubig auf eine Zusicherung des NATO-Generalsekretärs Anders Fogh Rasmussen, der «versichert, dass die NATO alles tue, um zivile Opfer zu verhindern». Zugleich bestätigt sie, die NATO greife zur Umsetzung der UN-Resolution «auch Ziele und Objekte an, die nicht strikt im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Flugverbotszone stehen». Wie dann sichergestellt werden kann, dass «lediglich solche Ziele ausgewählt werden, deren Neutralisierung der Umsetzung der Sicherheitsresolution 1973 dient», wie in der gleichen Textpassage zugesichert wird, bleibt unerklärlich. Es fragt sich auch, ob deutsche Soldaten in den AWACS-Maschinen an solchen «Neutralisierungen» beteiligt sind.
Das Völkerrecht wird versenkt
Westerwelle versucht, sich das Image dessen zu geben, der von Anfang an gegen eine Militärintervention gewesen sei und nur den Frieden im Sinn habe. Dem widerspricht die massive Militärpräsenz, die Deutschland im Rahmen des Kriegs gegen den Terror im Mittelmeer aufgebaut hat. Die Fregatten, die zur Evakuierung deutscher Staatsbürger vor die libysche Küste geschickt hat, wurden bis heute von dort nicht abgezogen. Völkerrechtlich betrachtet ist ein solch massives militärisches Aufgebot an den Landesgrenzen eines Staates durchaus problematisch und zumindest ein unfreundlicher Akt, der gegen die völkerrechtlichen Sitten verstößt.
Tatsächlich ließe sich in diesem massiven Militäraufgebot in der Nähe der libyschen Staatsgrenzen – vor dem Hintergrund der Gesamtbewertung aller Umstände und der gegenwärtigen Bombardierung durch die NATO – auch eine völkerrechtswidrige Androhung der Gewalt durch Deutschland erblicken.
Dies legt auch ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs der Vereinten Nationen (IGH) über die Rechtmäßigkeit der Androhung und des Einsatzes von Nuklearwaffen vom 8.Juli 1996 nahe. Es bestätigt, dass die Androhung von Gewalt zur Sicherung von Menschenrechten in einem anderen Staat unzulässig ist, es sei denn, solch ein bewaffneter Einsatz wäre durch die UN-Charta gedeckt (Kapitel VII). Antikoloniale Befreiungskriege setzen dieses Gewaltverbot nicht außer Kraft. Hilfeleistungen für das abhängige Volk sind nicht zulässig.
Konkret heißt das: Auch wenn die Libyer ein Recht auf Gewaltanwendung gegen Gaddafi besitzen, berechtigt dies in keinem Fall Drittstaaten, das Gewaltverbot gegenüber Libyen zu verletzen.
In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage zum bewaffneten Einsatz deutscher Streitkräfte in Libyen führt die Bundesregierung einen neuen Typus von bewaffnetem Einsatz ein, der nicht vom Parlamentsbeteiligungsgesetz (ParlBG) erfasst ist: den «gesicherten Einsatz». Sie versucht damit nicht nur, die Bestimmungen des Grundgesetzes zu umgehen und sich um eine Zustimmung des Bundestages herumzumogeln, sie hebelt damit auch das absolute Gewaltverbot der UN-Charta aus. Die Bezeichnung «gesicherter Einsatz» bezeichnet eine bewaffnete Unternehmung, die nicht als kriegerisch betrachtet wird, weil die getragenen Waffen nicht zum Einsatz kamen oder angenommen wird, dass sie nicht zum Einsatz kommen.
Mit dieser Wortakrobatik rechtfertigt sie den bewaffneten Einsatz deutscher Streitkräfte im Ausland, trotz Missachtung des libyschen Hoheitsgebietes und ohne ausdrückliche Erlaubnis libyscher Behörden herbeigezaubert werden. Aus dem Schweigen der zuständigen libyschen Behörden konstruiert sie eine ausdrückliche Zustimmung.
Dass neue Bedrohungslagen inszeniert und zur Legitimation der «humanitären Militärintervention» eine «Verantwortung zum Schutz» konstruiert wird, ist nichts Neues. Neu ist vielmehr, dass die bislang in liberalen Demokratien geltenden rechtlichen Grundlagen verlassen werden und der Westen in seiner Realpolitik anscheinend dieses Hebels zur Durchsetzung seiner Interessen gar nicht mehr bedarf. Mit den jüngsten Resolutionen zur Durchsetzung von Regimewechseln in Libyen und der Elfenbeinküste missachtet der UN-Sicherheitsrat selbst zwingende Bestimmungen der UN-Charta.
Demokratie und Kapitalismus müssen als zwei entgegen gesetzte Tendenzen verstanden werden, das beweist nicht zuletzt der demokratische Aufbruch in Nordafrika. Während die sozialen Bewegungen angesichts dieser Prozesse faktisch als einzige Stütze der bürgerlichen Demokratie übrig geblieben sind, geht das bürgerliche Lager von der Fahne seines bisherigen rechtsstaatlichen Selbstverständnisses.
Das Schicksal der sozialistischen Bewegung hängt allerdings nicht von der bürgerlichen Demokratie ab, sondern umgekehrt das Schicksal der Demokratie von der sozialistischen Bewegung.
Kamil Majchrzak ist Redakteur der polnischen Ausgabe von Le Monde Diplomatique.
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