von Rene Jokisch
Die italienische Regierung setzt sich für offene und unkontrollierte Grenzen ein.Der etwas widersprüchliche Eindruck, den ein großer Teil der aktuellen Debatte über die Migrationspolitik in der EU vermittelt, lässt sich leicht aufklären.
Selbstverständlich unterstützt Silvio Berlusconi beim kommenden Treffen des Europäischen Rates am 24.Juni die Verschärfung der Migrationsbekämpfung an den EU-Außengrenzen – sie gilt als Konsens unter den EU-Staats- und Regierungschefs. Er unterstützt auch die weitere Aufrüstung der EU-Agentur FRONTEX. Lediglich im Streit um das Schengener Abkommen nimmt Italien eine besondere Rolle ein und fordert offene Grenzen.
Mitglieder dieses Abkommens sind Norwegen, Island und die Schweiz sowie alle EU-Mitglieder mit Ausnahme von Großbritannien, Irland, Rumänien, Bulgarien und Zypern. Zwischen den Schengen-Mitgliedern gilt der freie Personenverkehr – für viele Menschen einer der greifbarsten Fortschritte der europäischen Integration.
Die Voraussetzung für den weitgehenden Verzicht auf Kontrollen an den Binnengrenzen war der Konsens über eine gemeinsame EU-Außengrenze, die die sogenannte illegale Migration effektiv verhindern sollte: Jeder Mitgliedstaat sollte seinen Teil der Außengrenze gegen Migranten «verteidigen».
Der (kostspielige) Aufbau von Grenzkontrollkapazitäten und die effektive Bekämpfung von Migranten und Migration gehören zu den entscheidenden Voraussetzungen für den Beitritt eines Staates zu EU. Da Deutschland außer Flughäfen keine nennenswert zu kontrollierenden Außengrenzen hat, profitiert es besonders von dieser Verteilung der Verantwortung.
Italiens Grenze ist dagegen aus Sicht Berlusconis durch die Revolutionen und den Krieg in Nordafrika einem besonderem «Migrationsdruck» ausgesetzt, der eine gemeinsame Antwort der EU verlange: Von anderen EU-Mitgliedern fordert er vergeblich mehr Unterstützung bei der Aufnahme und Bekämpfung von Migranten.
Um Druck zu machen, ging Berlusconi soweit, tunesischen Migranten vorläufige Aufenthaltsgenehmigungen auszustellen, die sie zur Reisefreiheit in der ganzen EU berechtigen. Frankreich führte daraufhin, wie von Sarkozy angekündigt, wieder Grenzkontrollen ein. Dieser Schritt wurde als unberechtigte Beschränkung der Personenfreizügigkeit und als Verletzung der Schengener Abkommens gewertet und führte zu einer Debatte um die Reform dieses Abkommens.
Es ist zu erwarten, dass die Staats- und Regierungschefs die Personenfreizügigkeit durch weitere Ausnahmeregelungen und (neue) Entscheidungskompetenzen für die Mitgliedstaaten einschränken werden.Die Wiedereinführung nationaler Kontrollen muss kritisiert werden. Dabei sollte man sich aber nicht auf das Schengener Abkommen berufen, das den «grenzenlosen» Binnenraum durch eine festungsmäßige Außengrenze ergänzt, sondern grundsätzlich Reisefreiheit für alle Menschen fordern. Diese Forderung wendet sich auch gegen rassistische, willkürliche Kontrollen innerhalb des Schengenraum auf der Suche nach «illegalen» Migranten.
Die Zweischneidigkeit von Schengen zeigen auch die geplanten (und vorerst gestoppten) Beitritte Bulgariens und Rumäniens: Während die Bevölkerung in den beitretenden Staaten Reisefreiheit gewinnt, verlieren die Menschen in den Nachbarstaaten Freiheiten, wenn das Nachbarland nicht den gleichen Status als Schengen-Ausland hat. Insbesondere Menschen in den Grenzregionen zur Türkei, Moldawien und der Ukraine werden die Veränderungen zu spüren bekommen, wenn ehemals gute Nachbarn hinter der neuen EU-Außengrenze verschwinden.
Rene Jokisch ist Mitarbeiter von Andrej Hunko, MdB DIE LINKE.
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