Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2011

von Hala Kodmani

«Wenn man mir vor einem Monat erzählt hätte, dass sich eine Protestbewegung wie die heutige in verschiedenen Städten des Landes ausbreitet, hätte ich geantwortet, das ist reine Fiktion», sagt ein vierzigjähriger Mann aus dem syrischen Kleinbürgertum, den wir Hassan nennen wollen. Obwohl er ganz frisch bei den Protesten dabei ist, beginnt er an diesen «Aufstand der Würde gegen ein Regime, das nichts zu bieten hat», zu glauben.

Wie die große Mehrheit der syrischen Bevölkerung hat sich der Angestellte des Privatsektors bislang wenig für das öffentliche Leben interessiert. Er schätzte sogar die politische «Stabilität» und die wirtschaftliche Öffnung der letzten Jahre und glaubte an den Reformwillen von Präsident Bashir al-Assad.

Dennoch konnte der Mann aus der Provinz, der seit langem in Damaskus lebt, angesichts dem Aufstand der Bewohner seines Geburtsorts (dessen Namen er nicht genannt haben möchte) und vor allem angesichts der brutalen Repression, die sie erfuhren, nicht gleichgültig bleiben. Darum hat er sich seit einiger Zeit mit seinen Cousins, deren Nachbarn und einem großen Teil der Honoratioren seines Dorfs dem Aufstand angeschlossen.

Wie konnte sich also innerhalb so kurzer Zeit eine Bewegung von einer solchen Breite bilden, wie sie bei den Demonstrationen am 22.April zutage trat – die von einem Ende des Landes bis zum anderen reicht, obwohl der öffentliche Raum seit Jahrzehnten für die normale Bevölkerung nicht zugänglich ist? Der bestehende Ausnahmezustand untersagt die Versammlung von mehr als drei Personen an öffentlichen Plätzen, die Sicherheits- und Geheimdienste infiltrieren und überwachen systematisch alles und jeden. Schulen, Universitäten, die Jugendorganisationen, Gewerkschaften, die Berufsorganisationen, natürlich die Medien und sogar die Moscheen stehen unter der Kontrolle der herrschenden Baath-Partei.

Die Protestbewegung hat sich spontan und auf improvisierte Weise an verschiedenen Orten Syriens gebildet. Seit etwa Mitte April beginnt sie sich jedoch zu strukturieren. Neue tansiqyat (arabisch für Koordination) entstehen jeden Tag in den Städten und Dörfern des Landes, mehr als zehn von ihnen haben mittlerweile ihre eigenen Facebook-Seiten. Natürlich gibt es die tansiqyat von Daraa, Homs, Aleppo, Tartus und den wichtigsten Städten des Landes, aber es gibt sie auch in verschiedenen Vororten und Wohnvierteln von Damaskus, wie Duma, Barzeh oder Midan, wo ebenfalls Demonstrationen stattgefunden haben.

Der Protest hat sich also auf sehr lokale Weise entwickelt und hier und dort verankert, oftmals ausgelöst durch die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit einem korrupten Gouverneur oder mit einem allzu eifrigen Sicherheitschef. «Der Druck und die Repression der Herrschenden haben die Volkserhebung dazu gebracht, sich zu organisieren», erklärt ein Einwohner von Daraa, der Heimat, Hochburg und Märtyrerstadt der Revolte. Am Tag nach der Verhaftung einer Gruppe von Jugendlichen aus der Stadt «war es in dieser beduinisch geprägten Agrarregion die Mobilisierung der Familien, dann der Stammesführer, die der Bewegung eine Form gegeben hat».

Schutz durch Koordination
Wie in Daraa haben sich überall nach und nach lokale Komitees der Einwohner und Jugendlichen gebildet, um zu Demonstrationen aufzurufen, insbesondere nach dem Ende der Freitagsgebete, dann um den Verletzten zu helfen und Trauerfeiern für die «Märtyrer» zu organisieren.

Die Repression, aber auch «die Kampagnen der Vergiftung und Manipulation, die von den Medien und den Sicherheitsdiensten des Regimes betrieben werden, haben die Menschen aufgebracht und zusammengeschweißt», bestätigt ein Einwohner von Homs; offiziellen Medienberichten zufolge hatten in der vorangangenen Woche «Banden von Salafisten» den Tod unter die Bevölkerung gebracht. Nach und nach schließen sich Notabeln, örtliche religiöse Persönlichkeiten, aber auch Ingenieure, Rechtsanwälte und Ärzte den lokalen Komitees an, was der Bewegung mehr Festigkeit gibt.

Diese Komitees, die auf Zuruf unter den Einwohnern, in Wohnvierteln, Familien und Nachbarschaften entstanden sind, lernen dadurch, dass sie sich zu «Koordinationen» weiterentwickeln, um sich gegen Denunzianten und Spitzel des Regimes zu schützen. Sie führen Tag für Tag Aktionen vor Ort durch, unterstützt von Cyberaktivisten, die der Bewegung einen nationalen Zusammenhalt geben, indem sie beispielsweise die Verbindung zwischen verschiedenen Koordinationen herstellen. Informationen und Aufrufe, aber auch Videos werden per SMS oder als private Nachrichten auf Facebook an die Onlinegemeinschaft verschickt, deren Mitglieder sich innerhalb wie außerhalb des Landes befinden. So wird die Seite Syrian Revolution 2011, die wichtigste in den sozialen Netzwerken, direkt von 120.000 Mitgliedern und Betreibern versorgt, die die Informationen zusammenführen und die Losungen für die Mobilisierung verbreiten.

Gleichzeitig geben Berichterstatter, die schwer zu identifizieren sind, Nachrichten über Bewegungen vor Ort, Hilfsappelle und Aufrufe zu Demonstrationen per SMS an die Bevölkerung weiter. Heute ist es unmöglich, eine Stunde in Begleitung eines Bewohners der syrischen Hauptstadt zu verbringen, ohne dass dessen Mobiltelefon zu vibrieren beginnt, um «eine Versammlung der Medizinischen Fakultät von Damaskus» oder «eine Razzia der Sicherheitskräfte» anzukündigen, aber auch um andere Botschaften zu senden, die die Nutzer instinktiv als solche der Sicherheitskräfte erkennen.

Das Regime hat mehr als tausend Agenten angeworben und ausgebildet, um die syrischen Facebook-Konten zu überwachen und zu infiltrieren. Eine sehr unzureichende Maßnahme: Die Protestbewegung kann gegenüber den Spezialisten, die für die Machthaber arbeiten, eine deutliche technologische Überlegenheit für sich beanspruchen.

Zudem «gibt es immer mehr neue Aktivisten mit völlig unverdächtigen Profilen, die an der Bewegung teilnehmen», unterstreicht Hassan, der selbst ein gutes Beispiel dafür ist. «Sogar Beamte aus verschiedenen Verwaltungen helfen heimlich den Protestierenden, insbesondere, indem sie sie mit Informationen aus dem Inneren des Systems versorgen.»

So kann man seit einigen Tagen in den Netzwerken die Kopie eines Plans finden, den die Sicherheitsdienste umsetzen wollten, um den Demonstrationen entgegenzutreten. «Seitdem die Mauer der Angst gefallen ist, entdecken die Menschen jeden Tag mehr die Brüchigkeit und Mittelmäßigkeit des Regimes», schlussfolgert Hassan. «Und davon profitieren sie.»

Aus: Libération, 29.4.2011.

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