von Elke Steven
Als in den 1980er Jahren der Staat «seine» Bürger zählen wollte, brach ein Proteststurm los. George Orwells Roman 1984, der den Schrecken eines totalitären Überwachungsstaates beschreibt, wurde für die Gegner zum Symbol.
Die zunächst für 1983 geplante Volkszählung konnte nicht stattfinden. Der Protest war breit gestreut, das Bundesverfassungsgericht urteilte und «erfand» das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das es aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ableitete. Bei der Volkszählung 1987 war die Verweigerung noch immer nicht unerheblich.
Damals wie heute wird argumentiert, erst die neuen Zahlen würden eine sinnvolle wirtschaftliche und politische Planung ermöglichen. Aber damals wie heute gilt, dass Fehlplanungen auf politische Fehlentscheidungen zurückgehen, interessegeleitete Deutungen, Berücksichtigung von Lobbyinteressen oder fehlende Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Große zentrale Datensammlungen bergen indes Gefahren. Sie können diskriminierend verwandt werden – z.B. in Bezug auf die Religion oder den Migrationshintergrund – und rufen Begehrlichkeiten hervor. Sie können für Wirtschaft, Polizei und Geheimdienste interessant sein.
Im Mai 2011 hat wieder eine Zählung des Volkes begonnen, der Proteststurm aber ist ausgeblieben. Wir haben ihn nicht einfach alle verschlafen – die Zeiten haben sich geändert. Datensammlungen entstehen heute allüberall, ihre Formen haben sich geändert, und der Protest dagegen ist schwieriger geworden. Aber die Argumente von früher gelten auch heute noch – die Auswertungsmöglichkeiten sind sogar technisch um vieles einfacher geworden.
Zwei Verfassungsklagen gegen die anstehende Volkszählung wurden vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt – die eine als nicht zulässig, die andere als nicht ausreichend.
Deshalb informieren wir:
Diese Volkszählung greift weit tiefer als grundrechtlich akzeptabel in das informationelle Selbstbestimmungsrecht ein. Davon sind bestimmte Gruppen in besonderer Weise betroffen.
Der Zensus findet diesmal europaweit gemäß der «Verordnung der Europäischen Union über Volks- und Wohnungszählungen vom 9.7.2008» statt. Das deutsche «Gesetz über den registergestützten Zensus im Jahre 2011» hat die zu erhebenden und auszuwertenden Merkmale umfassender normiert, als es das europäische Gesetz verlangt. Die Informationen über die Bürgerinnen und Bürger, die zentral gespeichert werden, sind weit gefasst und dürfen bis zu vier Jahren aufgehoben werden. Mit Hilfe von Ordnungsnummern bleiben sie während dieser Zeit auch den konkreten Personen zuordbar.
Bei den Behörden vorhandene Daten der Bürgerinnen und Bürger werden zu neuen Datensätzen zusammengefasst. Davon sind alle betroffen! Das ist weitgehend schon lautlos passiert, ohne darüber zu informieren. Das Zweckbindungsgebot der Datenerfassung und -speicherung wurde also missachtet.
Die Daten werden nicht anonym verarbeitet, sondern sind mit Ordnungsnummern versehen.
«Nur» 10% der Bevölkerung sollen direkt befragt werden. Diese direkte Befragung scheint also nur wenige zu betreffen. Aber das ist eine systematische Täuschung. Es wird vermehrt die Bevölkerung in ländlichen Gebieten befragt werden. Die städtische Bevölkerung dagegen ist unterrepräsentiert. Hier wird mehr Protest befürchtet.
Alle Eigentümer von Häusern oder Wohnungen werden befragt, Immobilienbesitzer werden also vollständig erfasst. Bewohner in «Gemeinschaftsunterkünften» (Justizvollzugsanstalten, Krankenhäusern, Behindertenwohnheimen und Notunterkünften für Wohnungslose, aber auch Kasernen und Studentenwohnheimen) werden direkt und vollständig befragt. Die Daten können auch durch Befragung der Leiterinnen und Leiter dieser Institutionen erhoben werden. Je abhängiger eine Person lebt, desto geringer sind ihre Möglichkeiten, zu protestieren und zu verweigern.
Die restlose Erfassung der Abhängigen verstößt frontal gegen grundrechtliche und darüber hinaus verrechtlichte Diskriminierungsverbote. Sie verletzt außerdem Art.1 Satz 1 GG: «Die Würde des Menschen ist unantastbar.»
Die Erhebungen sind so nicht notwendig. Die erfragten Daten verletzen das Selbstbestimmungsrecht. Insbesondere Fragen nach der Religionszugehörigkeit oder der Weltanschauung – mit genauen Unterscheidungen zwischen verschiedenen islamischen Glaubensrichtungen – und nach dem Migrationshintergrund bzw. der Einreise nach 1955 gehen weit über das erträgliche Maß hinaus. Der Migrationshintergrund wird, selbst bei deutschen Staatsbürgern, über Generationen hinweg erfragt und somit zugeschrieben. Die deutsche Gründlichkeit geht hier weit über das von der EU geforderte Maß hinaus – danach wird ein Migrationshintergrund nur dann zugeschrieben, wenn jemand nach 1981 in das EU-Land gezogen ist.
Was kann man tun?
Klagen gegen die Volkszählung werden von Einzelnen und von Genossenschaften betrieben. Nach Abschluss eines Verwaltungsverfahrens kann erneut Verfassungsbeschwerde eingereicht werden. Möglich wäre auch ein erneuter Versuch eines Eilverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht, «um die Volkszählung bei bestehenden erheblichen Gefahren zu stoppen».Schon gegen die Zusammenführung der vorhandenen Daten kann man klagen. Bisher ist eine solche Klage nicht bekannt geworden. Sollte man selbst zur Auskunft verpflichtet sein, so kann man hiergegen Widerspruch einlegen (§68 Verwaltungsgerichtsordnung). Allerdings hat dieser keine aufschiebende Wirkung.
Wenn aber der Zähler vor der Haustür steht und man zufällig zu Hause ist, sollte man ihn auf keinen Fall in die Wohnung lassen. Dazu ist man nicht verpflichtet. Der Fragebogen kann auch ausgehändigt werden. Möglicherweise bleibt er dann erst mal liegen. Es folgen Mahnungen. Ein Bußgeld kann angedroht und erhoben werden. Selbstverständlich kann man gegen solche Maßnahmen auch klagen und hoffen, dass andere bis dahin schon Erfolge erstritten haben. In jedem Fall verursacht die Nichtzusammenarbeit dem Zensus Aufwand und hält ihn vielleicht von weiteren Nachfragen ab.
Wenn man den Bogen irgendwann ausgefüllt hat, sollte er in einem verschlossenen Umschlag abgegeben werden.
Nicht zu vergessen ist, dass die Angaben zur Religionszugehörigkeit oder Weltanschauung (Frage Nr.8, nicht die zur Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft, Nr.7) freiwillig sind. Also sollte man hier auf keinen Fall Angaben machen.
www.grundrechtekomitee.de
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