Wie das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) nach Auswertung des Sozioökonomischen Panels herausfand, betrug die Dauer der Arbeitslosigkeit vor der Hartzreform (2005) im Durchschnitt 12 Monate, jeder zweite fand innerhalb eines Jahres einen neuen Job. Unter Hartz IV beträgt die durchschnittliche Arbeitslosigkeit 13 Monate, weiterhin schafft es die Hälfte aller Bezieher des Arbeitslosengelds II innerhalb eines Jahres in eine neue Stelle.Dafür ist die Zahl der Armen dramatisch gestiegen. Im 4.Quartal 2010 lebten von 576.704 Einwohnern in Dortmund 82.295 in Arbeitslosengeld II und Sozialgeld. Die Zahl der Bedarfsgemeinschaften betrug 42.958. Die Armutsquote ist jedoch deutlich höher, weil Bezieherinnen von Transferleistungen durchschnittlich über Einkommen verfügen, die ca. 20% unterhalb der Armutsschwelle liegen – aktuell sind das 796 Euro für Alleinstehende und 1796 Euro für einen Vierpersonenhaushalt, Stand 2009.
Der starke Anstieg der Armutsbevölkerung (bundesweit um 14,6%, 2009) erzeugt eine erhebliche Nachfrage nach kostenlosen oder für einen symbolischen Beitrag erhältlichen Lebensmitteln, Mittagstisch in Suppenküchen, Kleidung, Hausrat und Spielzeug, Medikamenten und medizinischen Dienstleistungen bis hin zu entwerteten Wohnungen, die zunehmend verrotten, weil sie nur noch zum Preis der Nebenkosten vermietet werden (können). Gleichzeitig setzt die Sozial- und Steuerpolitik starke Anreize, der Armut mit Wohltätigkeit und ehrenamtlichem Engagement zu begegnen.
So entsteht eine Armutsindustrie, die recycelt, was die begüterten Mittel- und Oberschichten wegwerfen, und das überschüssige Arbeitskräftepotenzial für Gottes Lohn dienstverpflichtet. Es bleibt dauerhaft in diesem Sektor gefangen, ohne Perspektive, noch einmal den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt schaffen zu können.Hier verfestigt sich eine Parallelgesellschaft, die von den Strukturen und Rechten der Erwerbsgesellschaft entkoppelt, ausgegrenzt, abgehängt ist und zunehmend in Armutszonen der Stadt eingeschlossen wird. An die Stelle der doppelt freien Lohnarbeit (frei vom Dienstherrn und frei von Produktionsmitteln) treten wieder persönliche Abhängigkeit und (Behörden-)Willkür. Die Mehrheitsgesellschaft will mit diesen Armen nichts zu tun haben, spendet allenfalls und am liebsten das, was sie selbst nicht mehr braucht. Und wo sie sich von der Wirtschaftskrise bedroht fühlt, konkurriert sie mit ihnen um die knapper werdenden staatlichen Mittel und erklärt die aussortierten Menschen offen zum Ausschuss: «nicht integrationsfähig».
Irina Vellay hat im Jahr 2009 diesen Kreislauf für die Stadt Dortmund erforscht. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse dieser Studie findet sich im Artikel "Abfälle und Almosen – das Beispiel Dortmund".
Die ganze Studie trägt den Titel:
Irina Vellay, Die Parallelgesellschaft der Armut. Niedrigschwellige existenzunterstützende Angebote in Dortmund. Schriftenreihe «Workfare–Dienstpflicht–Hausarbeit» (Hrsg. Forschungsgruppe «Der ‹workfare state› – Hausarbeit im öffentlichen Raum?»), Nr.4, 2010. siehe auch www.werkstadt-dortmund.de/werkstadt/fair/doc/Parallelgesellschaft.pdf und www.fh-dortmund.de/vellay/index.php
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