Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2011

Eine hinterhältige Waffe
von Michael Warschawski
Roger Cukierman, Anfang des 21.Jahrhunderts Chef von Frankreichs jüdischer Gemeinde, hat einmal der israelischen Zeitung Haaretz stolz erzählt, wie er Ariel Sharon empfohlen hat, Israel solle die harsche internationale Kritik an den Massakern vom Oktober 2000 dadurch ersticken, dass es eine neue Front eröffnet: die des Antisemitismus.

Als France 2 die Bilder vom Mord an dem 12 Jahre alten Muhammad al-Dura in den Armen seines Vaters zeigte, war die Welt schockiert – und da passierte genau das. Israels Regierung hatte keine Antwort auf die erschreckenden Bilder vom Mord an zehn unbewaffneten Kindern und Jugendlichen durch Heckenschützen.

Cukierman sagte Sharon: «Anstatt zu nicht überzeugenden Ausflüchten zu greifen, sollten wir an einer neuen Front, dem Antisemitismus, angreifen.» Jeder, der seine Stimme gegen die Verbrechen Israels erhob, sollte des Antisemitismus angeklagt werden.

Die Strategie war über alle Erwartungen erfolgreich: Journalisten und Intellektuelle verstummten, um nicht des Antisemitismus angeklagt zu werden, und wer es wagte sich zu äußern, wurde gezwungen sich zu verteidigen, einschließlich vor Gericht, um zu beweisen, dass er kein Antisemit war – fünfzig Jahre nach Auschwitz eine schreckliche Anschuldigung in Europa.

Nach zehn Jahren schien es, als hätte diese Waffe, auch wegen Überbeanspruchung, an Wirksamkeit verloren und sei nach und nach zurückgedrängt worden. Doch das inakzeptable Junktim zwischen der Kritik an Israels Politik und dem Antisemitismus ist zurückgekehrt, sogar in die Reihen einer linken Partei, die eine Tradition des Kampfs für Menschen- und Arbeiterrechte aufzuweisen hat.

Zunächst einmal scheint eine Klärung notwendig, was Antisemitismus ist. Es gibt Antisemitismus in Europa, auch wenn alle Untersuchungen sagen, dass er sich im Vergleich zu den 1950er Jahren deutlich im Rückgang befindet; der Antisemitismus ist Teil der europäischen Kultur, und kulturelle Phänomene verschwinden nicht innerhalb von ein bis zwei Jahrzehnten.

Zweitens ist dies ein christlicher und weißer Antisemitismus, nicht der sogenannte «muslimische Antisemitismus» der arabischen Bewohner schlechter europäischer Wohnviertel. Auch hier sind die Untersuchungen eindeutig: Antijüdische Positionen  (Graffiti, Angriffe auf Juden) sind in diesen Vierteln ein relativ randständiges Phänomen und in erster Linie eine dumme Reaktion einzelner gegen die von Israel in den besetzten Palästinensergebieten verübten Taten.

Drittens gibt es auch Antisemitismus, wenngleich in winzigem Ausmaß, in den Reihen der Linken und in der Palästinasolidaritätsbewegung – wie gesagt verschwindet ein kulturelles Phänomen nicht mit einem Handstreich in einer Generation, auch wenn die Linke es meist erfolgreich aus ihren Reihen eliminiert hat.

Und schließlich nehmen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in dem Maße zu, wie sich die ökonomische und gesellschaftliche Krise in Europa verschärft.

Dies gesagt, ist die Gleichsetzung von Kritik an Israel, einschließlich klarer antizionistischer Positionen, mit Antisemitismus eine Manipulation der Pro-Israel-Lobby und muss angeprangert werden, auch weil sie zu einer Verharmlosung des Antisemitismus führt. Es ist traurig, dass linke Parteien immer noch in diese ihnen aufgestellte Falle gehen, wie jüngst in Deutschland geschehen.

In einer äußerst konfusen politischen Erklärung greift die politische Führung der Partei DIE LINKE den Vorwurf des Antisemitismus, um von der Solidarität mit den Palästinensern, der von Palästinensern geführten BDS-Kampagne und der Flotille, die sich gegen Israels Blockade des Gazastreifens richtet, abzurücken.

Es gibt dafür zwei Erklärungen: Entweder die Führung der LINKEN leidet an besorgniserregender politischer Dummheit oder sie tut nur so, um eine mögliche Kritik von Freunden Israels abzuwenden – was auch dumm ist, denn eine linke Partei wird niemals Israels Sympathie erringen, selbst wenn ihre Mitglieder vor jeder Versammlung die israelische Nationalhymne singen und auf Demonstrationen die israelische Flagge schwenken.

Der Kampf gegen Antisemitismus muss selbstverständlicher Bestandteil des Kampfes sein, denn jede linke Partei kompromisslos gegen den Rassismus zu führen hat, der sich gegen Arbeitsmigranten, Einwanderer, Roma und Sinti usw. richtet. Die Solidarität mit dem palästinensischen Volk ist Bestandteil des antikolonialen Kampfes, zu dem jede linke Partei verpflichtet ist. Diese beiden Seiten ergänzen und verstärken sich gegenseitig – wenn eine von beiden ihres Inhalts entleert wird, verliert die andere ihre moralische Rechtfertigung und politische Wirksamkeit.

Es wäre angebracht, dass die Führung der LINKEN ihre Erklärung zurückzieht, es mangelt ihr sowohl an politischer Weisheit wie auch an moralischer Integrität.

Michael Warschawski leitet das Alternative Information Center in Jerusalem, www.alternativenews.org.

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