Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2011

Eine dunkle Vergangenheit
von Lothar Gothe
Die Geschichte des Landschaftsverbands gehört endlich aufgearbeitet. Hier die Zusammenfassung einer Rede von Lothar Gotte vor dem Gesundheitsausschuss des NRW-Landtages am 10.Juni 2011.

Im Jahr 1969 zog ich mit anderen APO-Leuten in das Haus Salierring 41 in Köln ein. Es war eine Art Keimzelle des späteren SSK. In unserer WG ließen wir auch Obdachlose übernachten. So kamen Heimzöglinge und Psychiatrieinsassen zu uns. Ihre Berichte über körperliche Übergriffe, Demütigungen, sexuellen Missbrauch, Zwangsarbeit, Freiheitsberaubungen und die Unmöglichkeit, sich dagegen zu wehren, waren so erschütternd, dass wir sie zunächst für maßlose Übertreibungen hielten. Derartige staatliche Gewalt und Rechtlosigkeit kannten wir bis dato nur aus Berichten von geflohenen Oppositionellen aus südamerikanischen und afrikanischen Diktaturen oder dem Nazireich. Heute sind diese grausamen Einzelheiten bekannt, damals geschah dies alles im Verborgenen.

Es stellte sich heraus, dass der Landschaftsverband Rheinland (LVR), eine Mammutbehörde mit damals 12.000 Angestellten und einem Milliardenetat für die rheinischen Heime und Anstalten hauptverantwortlich war. In der Öffentlichkeit fast unbekannt, unterlag diese Monsterverwaltung keiner unabhängigen Kontrolle, und es stand ihr kein demokratisch legitimiertes Parlament gegenüber. Das ist auch heute noch so.

Menschenversuche

Die ehemalige Abtei Brauweiler war im 19.Jahrhundert eine sog. «Arbeitsanstalt», in Nazideutschland diente ein Teil als Gestapo-Gefängnis, nach dem Krieg brachten hier die Amerikaner sog. «Displaced Persons» unter. Danach war hier die «Rheinische Landesarbeitsanstalt», bis das Gebäude 1969 in eine Fachklinik für Psychiatrie und Neurologie umgewandelt wurde. 1978 wurde die Klinik geschlossen.

In diesem Zusammenhang gab es eine gerichtliche Auseinandersetzung mit dem SSK, nachdem der LVR gegen ein Flugblatt des SSK klagte, das dieser nach der Schließung verbreitet hatte. «Der Skandal ist, dass Menschen wie Vieh gehalten werden können, mit Dämpfungsmitteln vollgestopft … Brauweiler ist nicht ein einzelner Missstand, denn in keinem anderen Landeskrankenhaus (LKH) ist es anders als dort», hieß es u.a. in dem Flugblatt. Ich wurde als Unterzeichner ohne weitere Nachprüfung per Strafbefehl wegen Beleidigung verurteilt. Im zivilrechtlichen Verfahren ließ das Landgericht die Äußerungen jedoch zu, soweit sie Brauweiler betrafen, untersagte aber die weitergehenden.

Über Jahre jagte ein Skandal den nächsten: Brauweiler, Düren, Bonn usw. Keiner wurde vom LVR selbst aufgedeckt. Im Gegenteil: Verdunkeln, Vertuschen, Hausverbote, Strafanzeigen gegen uns statt gegen seine eigenen Täter waren die üblichen Reaktionen.

Mitte der 70er Jahre wurden uns zwölf Doktorarbeiten der Universität Düsseldorf zugespielt: Die Doktoren hatten im LKH Grafenberg für eine Düsseldorfer Pharmafirma an Patienten, Zwangsuntergebrachten, eine Studie mit nicht zugelassenen Medikamenten durchgeführt und akribisch die qualvollen, teils lebensbedrohlichen Nebenwirkungen notiert. Die Herren wurden nicht zur Verantwortung gezogen, wohingegen in den Nürnberger Prozessen Ärzte verurteilt worden waren, weil sie ähnlich quälerische Versuche mit Meerwasser an KZ-Häftlingen durchgeführt hatten.

Der Stern veröffentliche Berichte von russischen Dissidenten über deren Misshandlungen in den psychiatrischen Anstalten. Das Schlimmste sei, so erklärten sie, das Haldol und beschrieben dessen schwere Nebenwirkungen. Was der KGB als Foltermittel importierte und einsetzte, war in den hiesigen Psychiatrien ein medizinischer Renner. Weil es geschmack- und geruchlos ist, ließ es sich unbemerkt in Getränken verabreichen. An Wochenenden war es Usus, dass Pfleger per «Bedarfs- verordnung» die Insassen mit einer Zusatzdosis «pflegeleicht» machten.

Während diese mit Blickstarre und aus dem Mundwinkel tropfendem Speichel im chemischen Nebel dahindämmerten, konnten jene in Ruhe Skat kloppen.Ende der 70er Jahre rügte Amnesty International in seinem Jahresbericht die Bundesrepublik wegen Menschenrechtsverletzungen in den psychiatrischen Einrichtungen. Das zugrunde liegende Beweismaterial stammte überwiegend vom SSK, es betraf in der Hauptsache die Anstalten des LVR.

Spätestens da wäre es für den LVR angebracht gewesen, eine scharfe Zäsur durchzuführen, die Ursachen für die katastrophalen Tatbestände zu erforschen und die Fehlentwicklungen offen zu legen. Unweigerlich wäre aber das braune Netzwerk ans Tageslicht befördert worden.

Das Tabu Klausa

Das Haupthindernis für einen offenen Umgang mit der «jüngsten Vergangenheit» scheint mir in der Person des Udo Klausa zu liegen, der den LVR 21 Jahre lang autoritär geführt und geprägt hat. Bis heute steht er beim LVR auf einem Denkmal, an dem zu rütteln sich immer noch keiner traut.

Das Tabu Klausa blockiert die historische Aufarbeitung der 50er, 60er und 70er Jahre, wie man auch an der Studie «Verspätete Modernisierung» erkennen kann. Er übte unbestreitbar von 1954 bis 1975 einen beherrschenden Einfluss aus und regierte autokratisch den LVR unter souveräner Missachtung des Parlaments. Zur Aufdeckung der Ursachen des Nachkriegselends muss man seine Geisteshaltung und Vergangenheit aufdecken.

Weil das bisher nicht geschah, will ich dies nun anhand der mir vorliegenden, natürlich unvollständigen Informationen darstellen. Dies soll ein Anstoß für eine grundlegende Forschung sein, die längst überfällig ist.

1926 trat Klausa als «glühender Nationalist» in die illegale Reichswehr ein, 1933 «auf dringendes Anraten eines Freundes» in die NSDAP und in die SA. Von 1939 bis 1945 war er Landrat im Generalgouvernement, in einem Landkreis im annektierten Polen. 1942 habe er sich zur Wehrmacht gemeldet, weil er von den Judendeportationen erfahren habe, das Landratsamt sei dann bis Kriegsende kommissarisch von seinen Stellvertretern ausgeübt worden.

Doch heute ist längst belegt, dass in jedem polnischen Landkreis gleich nach dem Einmarsch der Deutschen schlimmste Verbrechen an der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung begangen wurden. Kaum vorstellbar also, dass Klausa nicht direkt oder indirekt daran beteiligt war.

Wir erfahren nichts über seinen militärischen Rang und den in der SA: Nach dem Krieg konnte er einen «Persilschein» seines Wehrmachtskameraden Graf Baudissin vorlegen. 1938 veröffentlichte er beim Kohlhammerverlag die Hetzschrift «Rasse und Wehrrecht», er forderte u.a. die «Aussonderung der Entarteten», die einige Jahre später unter dem Decknamen «Euthanasie» durchgeführt wurde.

Klausas Mitarbeiter

Klausa ist kein Einzelfall. Der Euthanasiegutachter Friedrich Panse machte als Klinikchef Karriere, obwohl er mindestens 15 Menschen in den Tod geschickt hat und traumatisierte Soldaten mit Elektroschocks versah.

Auch andere rheinische Klinikchefs, die Menschen selektiert hatten, wurden später wegen «Befehlsnotstand» von deutschen Gerichten freigesprochen. Welch furchtbare Situation für überlebende Anstaltsinsassen und Heimzöglinge, wenige Jahre nach Kriegsende wieder mit dem alten Nazipersonal konfrontiert zu sein!

Da der Landschaftsverband erst 1953 gegründet wurde, begünstigte dies die Wieder- und Neubeschäftigung belasteter Nazis. Es hat den Anschein, dass hier deutlich mehr belastete Nazis als in anderen Behörden untergekommen sind. Das könnte die grundrechtswidrigen Verhältnisse erklären, die noch mehr als 30 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik vorzufinden waren, ausgerechnet in den staatlichen Einrichtungen, in welchen der Nazismus schlimmste Mordtaten verübt hat.

Anstatt aber diese Hintergründe offen zu legen herrscht bis heute eine unglaublich devote und unterwürfige Haltung gegenüber Klausa vor. Als er prunkvoll verabschiedet wurde, hatte der SSK eine Protestkundgebung vor dem Landeshaus angemeldet, welche der Polizeipräsident untersagte, das Gericht aber erlaubte. Ich wurde festgenommen. Meine «Straftat»: Ich hatte Klausa wahrheitsgemäß und eher verharmlosend als «Altnazi» bezeichnet! Zu seinem Abschied konnte man im Hausblatt Neues Rheinland lesen: «Wenn Klausa auf Veranstaltungen erschien, hochgereckt und formvollendet, war das in der Regel so, wie wenn sich ein Rassepferd in eine Herde von Ackergäulen verirrt hätte.»

Es fiel wohl keinem der instinktlose Vergleich des Verfassers von «Rasse und Wehrrecht» mit einem Rassepferd auf.

Bis heute

Immer noch herrscht eine gähnende Leere, wo die historisch-kritische Auseinandersetzung mit ihm und seinesgleichen und dem Geist zu finden sein müsste, der für die menschenverachtenden Verhältnisse in den LVR-Einrichtungen verantwortlich ist. Die Mitarbeiter des LVR-Archivs wagen es offenbar auch nicht, zur Klärung des LVR-Nachkriegselends beizutragen. Im Gegenteil: Statt es zu fördern, behinderten sie gerade erst kürzlich das Schülerprojekt des Pulheimer Gymnasiums, das die historische Aufarbeitung des Skandals um das ehemalige Landeskrankenhaus Brauweiler zum Thema hat, und versuchten, die Veröffentlichung zu verhindern!

Was der LVR bis heute unterlassen hat, haben die Schüler zumindest für Brauweiler geleistet und werden dafür am 28.Juli durch die Körber-Stiftung im Bonner Haus der Geschichte ausgezeichnet. Welche eine schallende Ohrfeige für den Landschaftsverband!

Es kann nicht länger hingenommen werden, dass der LVR inzwischen zwar das Elend, die Menschenquälerei und die Rechtlosigkeit seiner Schutzbefohlenen beklagt, andererseits aber die politischen Ursachen weiter im Dunkeln halten will. Ich fordere daher die überfällige, offene und ehrliche Aufarbeitung der Nachkriegsgeschichte – so peinlich sie auch ausfallen möge.

Deshalb schlage ich vor, dass der Gesundheitsausschuss bis dahin ein Zeichen für wahre Betroffenheit und echtes Mitgefühl setzt: Auf dem Gelände des früheren LKH Brauweiler soll neben die vorhandene Gedenktafel für die Opfer des Naziterrors eine weitere für die Nachkriegsopfer angebracht werden, da sie genauso unschuldig und grausam zu Tode gekommen sind. Drei Namen sollen exemplarisch genannt werden: Marion Masuhr, die totgespritzt wurde, Fritz Feyerabend, der beim Fluchtversuch abstürzte, und Kurt Konopka, der von Pflegern zu Tode geprügelt wurde.
Lothar Gothe hat in den 70er Jahren die Sozialistische Selbsthilfe Köln und die Antipsychiatriebewegung im Rheinland mitbegründet, seit 20 Jahren ist er Ökobauer. Als politischer Aktivist ist er engagierter denn je.

Am 16.Juli 2011 ist um 15.35 Uhr (Wiederholung am 17.Juli um 18.05 Uhr) auf WDR5 eine Radiosendung über ihn zu hören: «Eine kurze Geschichte von...»

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