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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2011

Von Keimen auf Sprossen. Die Tücken der globalisierten Landwirtschaft
von Thadeus Pato
Wenn eine Epidemie ausbricht, muss man vor allem herausfinden, wie der Erreger in die Nahrungskette gelangt ist. Das wird aber immer schwerer.

Im 5.Jahrhundert v.u.Z. litten die Bewohner der griechischen Kolonie Selinos auf Sizilien an einer Epidemie, die in alten Schriften als «Pest» bezeichnet wurde. Sie riefen den Arzt und Philosophen Empedokles zu Hilfe. Der ließ kurzerhand Flüsse umleiten und legte so die in der Nähe der Stadt befindlichen Sümpfe trocken. Die Epidemie kam daraufhin zum Stillstand. Was das mit der EHEC-Epidemie zu tun hat? Geduld!

Was ist passiert?

Der Keim, der jetzt in aller Munde und in einigen menschlichen Körpern ist, ist seit langem bekannt. Verschiedene Serotypen von EHEC sind mindestens seit 1977 identifiziert, seit 1998 existiert in Deutschland eine Meldepflicht. Auch dass er in Einzelfällen zu schwerer Erkrankung bis hin zum Tod führen kann, ist nichts Neues. Es gab immer wieder Ausbrüche von Massenerkrankungen, so z.B. in den USA 1982 und 2006, in Japan 1996.

Neu ist die jetzt aufgetretene Variante (wissenschaftliche Bezeichnung: Husec04), nach den auf ihrer Oberfläche befindlichen, als Antigene wirkenden Lipopolysacchariden als Serotyp O104 (O für Oberfläche) bezeichnet. Die wie immer in derartigen Fällen aufgetauchten Verschwörungstheorien, wie etwa, der Stamm sei aus einem geheimen Labor entwischt usw., sind unsinnig. Grundsätzlich kommen Veränderungen bereits bekannter Erreger immer vor, da Bakterien in der Lage sind, untereinander Genmaterial auszutauschen. (Das ist z.B. auch der Hauptgrund für die Verbreitung von Resistenzen gegen Antibiotika über Artgrenzen hinweg.)

Im vorliegenden Fall ist es durch eine «Kreuzung» zwischen unterschiedlichen Stämmen zu einer neuen Abart gekommen, die erhebliche Nierenprobleme verursachen kann. Letzteres trifft zwar auch für den «normalen» EHEC zu, aber nicht in dieser Häufigkeit und Aggressivität.

Natürlich findet immer dann, wenn eine neue Keimvariante auftaucht, auch unter Epidemiologen eine intensive Diskussion darüber statt, wie es zur entsprechenden Veränderung gekommen ist. Bei den Antibiotikaresistenzen z.B. weiß man, dass der Einsatz von Antibiotika in der Tiermast und auch im Obstanbau dafür mitverantwortlich ist. Die Frage allerdings, woher der neue EHEC-Typ stammt, wird wohl nie zu klären sein.
Wie vorgehen?

Prinzipiell muss bei einer derartigen Epidemie so vorgegangen werden, wie es der oben erwähnte Herr Empedokles getan hat: Identifizierung und Beseitigung der Infektionsquelle. Natürlich kommen heute weitere Massnahmen wie Behandlung mit Antikörpern (die es damals nicht gab und die derzeit experimentell ist), Isolierung (wenn es um Keime geht, die von Mensch zu Mensch übertragen werden können) und strikte Einhaltung entsprechender hygienischer Richtlinien hinzu.

Aber der Königsweg in der Epidemiologie ist nach wie vor die Rückverfolgung der Infektionskette bis zum Ausgangspunkt, um die Ursache zu beseitigen, wie auch im jetzigen Fall geschehen. Die eine bekannte Quelle, nämlich Rinder (aber auch Schafe und Ziegen), in deren Darm grundsätzlich alle EHEC-Typen gedeihen, und die nicht erkranken, aber inzwischen fast völlig durchseucht sind, kann man nicht verstopfen. Man muss herausfinden, wann, wo und wie der Erreger in die menschliche Nahrungskette gelangt ist.

Das Problem ist, dass es zunehmend seltener gelingt, bei solchen Ereignissen den ursprünglichen Infektionsherd ausfindig zu machen – derzeit gelingt dies bei etwa 20% der Fälle. Bei den beiden Ausbrüchen von EHEC-Infektionen im Jahr 2002 in Deutschland bspw. konnte die Quelle auch nicht identifiziert werden.* Und das hat unter anderem einen Grund, über den ungern gesprochen bzw. der als gottgegeben hingenommen wird – der einschlägige Gott im Pantheon der Postmoderne heißt Globalisierung…

Spanische Gurken und deutsche Sprossen

Klar ist bei EHEC, dass die Infektion über die Nahrung verbreitet wird. In diesen Fällen versucht der Epidemiologe, über die Erhebung der Nahrungsgewohnheiten der Betroffenen, eine Kartierung des geografischen Auftretens und eine entsprechende Zuordnung, die Quelle einzugrenzen. Auf diese Weise kamen die verschiedenen, zum Teil inzwischen widerlegten, Vermutungen über die Herkunft des Keims aus Spanien, den Niederlanden oder Deutschland zustande und auf diese Weise kam man (über eine sog. «Rezeptbasierte Restaurant-Kohortenstudie») schließlich auf die Sprossen als wahrscheinlichste Infektionsquelle.

Und da liegt der neuralgische Punkt: Durch die globalisierte Erzeugung und Vermarktung von Lebensmitteln ist die Quellenforschung immer schwieriger geworden. Es ist zwar immer noch möglich, von einem Betroffenen zu erfahren, ob er z.B. Gurken, Tomaten oder Avocados gegessen hat, aber dann herauszufinden, ob es spanische, niederländische oder israelische waren und aus welchem Betrieb sie kamen, ist oft nicht möglich. Da nützt auch die Herkunftsangabe im Supermarkt nicht viel.

Eine der ersten epidemiologischen Untersuchungen der Neuzeit war deshalb erfolgreich, weil es sich um ein kleinräumiges Geschehen handelte: John Snow forschte 1854 über die Ursache der damaligen Choleraepidemie in London. Er verglich das Risiko zu erkranken, für ein Quartier mit einem bestimmten Brunnen («Broad Street Pump») mit dem eines Quartiers mit Wasserversorgung aus einem anderen Brunnen und kam relativ schnell darauf, dass es der Brunnen mit dem ungefilterten Themsewasser war, der den Ausbruch ausgelöst hatte.

Wi(e)der die Agrarindustrie

Die jetzt, da die Quelle der Infektion gesichert erscheint, durch die Presse geisternden Vorwürfe, man hätte den entsprechenden Erzeugerbetrieb zu spät geschlossen, man hätte die Quelle schneller finden können/müssen, sind irreführend.

Natürlich kann man sich darüber streiten, ob die getroffenen Maßnahmen zeitgerecht und effektiv waren. Aber das ist nicht der wesentliche Punkt, denn nach den vorliegenden Informationen handelte es sich nicht um eine über einen längeren Zeitraum kontinuierlich erfolgte, sondern akzidentelle einmalige Kontamination der entsprechenden Produkte – selbst wenn man den Betrieb unmittelbar nach dem Auftauchen der ersten Fälle geschlossen hätte, wäre der epidemiologische Verlauf kein wesentlich anderer gewesen, das zeigt die entsprechende Grafik mit den Erkrankungszahlen: nach einem steilen Anstieg der Zahlen ein ebenso rascher Rückgang (Robert-Koch-Institut, Epidemiologisches Bulletin, Nr.23 vom 14.6.2011).

Das eigentliche Problem wird durch die Nebelwerferei der Medien verschleiert. Die globalisierte Massenproduktion von Lebensmitteln vergrößert die Gefahr großräumiger Ausbrüche solcher Epidemien immer weiter und erschwert gleichzeitig, wie oben gezeigt, die Quellenforschung.

Industrielle Lebensmittelproduktion ist eben nicht nur aus ökologischen Gründen – Monokulturen, Zunahme von Verkehr, Einsatz von Pestiziden, Exportorientierung auf Kosten der lokalen und regionalen Versorgung – kontraproduktiv, sondern ebenso aus epidemiologischer Sicht. Deshalb ist kleinräumige, regionale Produktion und Vermarktung von Lebensmitteln die strategisch richtige Antwort.

Gleiches trifft auf die Saatgutproduktion zu: Auch wenn derzeit noch untersucht wird, ob der Keim eventuell bereits im Saatgut vorhanden war, lässt sich grundsätzlich feststellen, dass Massenproduktion und großräumige Vermarktung auch in diesem Bereich die Gefahren aus epidemiologischer Sicht vergrößern.Wenn man dem Robert-Koch-Institut und den politisch Verantwortlichen einen Vorwurf machen kann, dann vor allem den, dass sie über diese Zusammenhänge kein Wort verlieren. Aber was soll man auch von Politikern erwarten, die nicht müde werden, zu beteuern, dass «wir» von der Globalisierung nur profitieren.

Anmerkung:
*Robert Koch Institut: «Eine Ursache für die deutliche Häufung von HUS-Erkrankungen zwischen Oktober und Dezember 2002 konnte trotz intensiver Bemühungen aller an der Untersuchung beteiligten Institutionen nicht gefunden werden.»

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