Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2011
Wie Deutsche versuchen, sich als «Nichtantisemiten» zu profilieren
von Iris Hefets
Die Debatte über Antisemitismus in der Partei Die Linke hat mehr mit der deutschen Befindlichkeit als mit der Realität in Israel/Palästina zu tun.

Zwei Juden gehen an einer Kirche vorbei und bemerken, dass an der Tür eine Anzeige hängt, in der einem zum Christentum übertretenden Juden 1000 Goldtaler angeboten werden. Die beiden bleiben stehen. Sie wissen, dass es sich um eine große Sünde handelt, aber 1000 Goldtaler? Sie überlegen gemeinsam und kommen zu dem Entschluss, dass einer von ihnen, der durch das Los bestimmt wird, hineingeht und dass sie danach, wenn er als Christ wieder herauskommt, Geld und Sünde teilen werden. Also losen sie, und der zur Erlösung durch Christus Verdammte geht hinein. Nach einer Weile kommt er wieder heraus. «Na? Wie war es?», fragt der draußen wartende Jude. «Es war, wie es war», antwortet der andere. «Nu? Und das Geld, hast du es bekommen?», setzt der erste fort. «Ja, habe ich.» «Und? Was ist mit meinem Teil?», fragt der erste. «Ihr Juden», erwidert der Frischgetaufte, «nur an Geld denkt ihr!»

Diese Geschichte fiel mir ein, als ich verschiedene Beiträge zur Debatte über «Antisemitismus» in den Reihen der Partei Die Linke las. Es handelt sich um einen alten Vorwurf von Christen bzw. christlich sozialisierten Deutschen, die eine Israel-Kirche gefunden haben, in der sie schnell und endgültig zu «Nichtantisemiten» getauft werden können, und die das beim Rausgehen den anderen laut demonstrieren müssen, um sich davon zu überzeugen, dass sie es wirklich hinter sich haben.

Um sich als «Nichtantisemiten» zu profilieren, brauchen sie eine Projektionsfläche, und die Linke bietet sich an: eine kleine Partei am Ende des politischen Spektrums mit DDR-totalitärer Vergangenheit, die zeitlich näher liegt als die totalitäre Vergangenheit der Westdeutschen, und mit einer Vergangenheitsbewältigung in DDR-Zeiten, die die Teilnahme an Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Nazizeit ausblendete. Man könnte meinen, die DDRler waren die Franzosen von Deutschland: Während in Frankreich plötzlich alle in der Résistance gewesen waren, lebte in der DDR ein Kollektiv von «Antifaschisten».

Anders aber als die Westdeutschen haben sich schließlich viele DDR-Bürger gegen ihr totalitäres Regime aufgelehnt. Ein solche kollektive Erfahrung von Zivilcourage haben die Westdeutschen nicht, und es entsteht manchmal der Eindruck, dass sich ihr Nachholbedarf auf das Israel-Spielfeld verschiebt: Da zeigen sie endlich einmal Widerstand und «retten die Juden».

Da der deutsche Genozid an den Juden keine richtige Adresse für Entschuldigung oder Wiedergutmachung ließ, wurde von beiden Seiten mit Erleichterung Israel als Ersatz genommen. Für den gerade gegründeten Staat war das ein unwiderstehliches Angebot, weshalb Ben-Gurion trotz heftiger Proteste in Israel mit Adenauer kooperierte. Die im Abkommen neben individuellen Zahlungen für deutsche Juden vereinbarte Zahlung einer Pauschalsumme für Ostjuden direkt an den israelischen Staat ermöglichte ein Untermischen des Geldes, das bekanntermaßen nicht stinkt, im öffentlichen Haushalt. Viele Israelis kauften keinen VW, fuhren aber im Krankenhaus im Thyssen-Aufzug oder nahmen Aspirin von Bayer, einem Nachfolgeunternehmen der IG Farben. Es gab eben Sachen, die man schlucken musste. Wir wuchsen als Israelis mit der Idee auf, dass alle Deutschen böse Nazis sind, was auch die Gleichgültigkeit, mit der Goldhagens Buch in Israel aufgenommen wurde, erklärt.

Gleichzeitig aber tauchte aus einem Nirgendwo ein «anderes Deutschland» auf, wie auch eine Fernsehserie hieß, die die Geschäfte mit der BRD zu verkoschern versuchte. Jede Abweichung des deutschen Verhaltens von dem seitens der Israelis erwarteten Verhalten löschte jedoch das propagierte Bild des «anderen Deutschlands» sofort: Es reichte, dass die Deutschen beim Eurovisionswettbewerb uns nicht mit «douze points» (zwölf Punkten) benoteten, um wieder «letztendlich sind sie alle Nazis» zu hören.

Für die deutsche Regierung wiederum war das Abkommen mit Israel eine Goldmine in anderer Hinsicht. Auch wenn immer noch 60% der Juden nicht in Israel leben, wurde Israel als «Ort des Ungeschehenmachens» ausgewählt. Opfer Nazideutschlands, die anderswo in der Welt lebten, sahen sich dagegen von der gleichen deutschen Regierung vor hohe formelle und emotionale Hürden gestellt. Schwer traumatisierte Menschen mussten auf Deutsch eine Entschädigung beantragen und sich von deutschen «Vertrauensärzten», die nicht selten eine Nazivergangenheit hatten, begutachten lassen. Selbst wenn sie die Kraft dafür aufgebracht hatten, wurden ihre Anträge in etwa der Hälfte der Fälle abgelehnt, häufig wegen Formfehlern. Ungeachtet dessen intensivierten die westdeutsche und die israelische Regierung ihre für beide Seiten in unterschiedlicher Form überaus einträglichen Beziehungen.

In der aktuellen Diskussion zum Antisemitismusvorwurf in der Partei Die Linke kann man Aussagen hören, die nie in Bezug auf einen anderen Staat verwendet werden und die scheinbar keiner Begründung bedürfen, bis auf «man muss vorsichtiger sein». So durfte man Südafrika boykottieren, aber Israel nicht, auch wenn Desmond Tutu sagt, dass die Lage in Südafrika für die Schwarzen besser war als die Lage für die Palästinenser in den besetzten Gebieten, und auch wenn keiner bestreitet, dass Israel seit Jahrzehnten gegen das Völkerrecht verstößt. Ohne Bezug zur Realität im Nahen Osten kann Gysi daher per Dekret erklären, dass eine Ein-Staaten-Lösung im Nahen Osten strikt abzulehnen ist. Deutsche Politiker, die so etwas äußern, haben nicht die Konsequenzen ihrer Positionen zu tragen und nehmen ungehemmt Einfluss auf das Leben von Palästinensern und Israelis, weil sie Israel als «Judenstaat» und Repräsentanten der Opfer der Verbrechen ihrer Eltern und Großeltern instrumentalisieren.

Der Anachronismus dieses Diskurses könnte einen zum Lachen bringen, wenn er nicht so traurig wäre. Als «Erziehungsoffizier» in der israelischen Armee, zu dessen Aufgaben die Stärkung des Zionismus der Soldaten gehört, hatte ich vor fast 30 Jahren die Judaisierung Galiläas zu propagieren. Selbst nach der massiven Anwerbung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion haben die Juden aber keine Mehrheit im Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan. Auch innerhalb der israelischen Grenzen von 1967 gab es nie eine nichtarabische Mehrheit: 60% der jüdischen Bevölkerung Israels stammen aus arabischen bzw. muslimischen Ländern, da der Genozid an den europäischen Juden die Verhältnisse in der jüdischen Welt unumkehrbar verändert hat.

Ob Die Linke, oder wer auch immer, eine Zwei-Staaten-Lösung will oder nicht, ist heute nicht mehr relevant: Eine halbe Million bewaffnete und von der viertgrößten Armee der Welt beschützte Israelis leben in den Kolonialsiedlungen in den besetzten Gebieten. Und daran würde sich nichts ändern, selbst wenn eine israelische Regierung einen palästinensischen Staat tatsächlich wollte.

Während Die Linke ihre ohne Argumente auskommende Debatte führt, plädieren ein CDUler wie Richard von Weizsäcker und ein SPDler wie Helmut Schmidt für Sanktionen gegen Israel, der CSUler und Verkehrsminister Peter Ramsauer sorgt für den Ausstieg der Deutschen Bahn aus einem gemeinsamen Projekt mit Israel Railways, bei dem einige Kilometer einer Schienentrasse zwischen Tel Aviv und Jerusalem durch besetztes palästinensisches Gebiet verlaufen sollen.

Während die politische Klasse in Deutschland sich mit einem imaginierten Israel beschäftigt, wandern viele Israelis aus. Offizielle israelische Stellen geben die Zahlen nicht preis, da sie die Illusion eines jüdischen Staates aufrechterhalten müssen. Mittlerweile können die vermutlich 15.000 allein in Berlin lebenden Israelis sich auf eine eigene Infrastruktur mit hebräischen Angeboten von Kinderbetreuung bis Psychotherapie stützen und gleichzeitig Zigtausende israelischer Touristen mit Unterkunft und organisierten Touren versorgen.

Während Politiker hierzulande predigen, wie die Juden in Israel ihre Selbstbestimmung zu verwirklichen haben, kommen viele dieser Juden ausgerechnet nach Deutschland, ungeachtet der deutschen Wunschvorstellungen und mit der richtigen Wahrnehmung der sich rasch ändernden Lage im Nahen Osten und der sich verschlimmernden Lage in Israel, weil Israel für sie ein konkreter Ort und nicht ein imaginierter Ort des Ungeschehenmachens ist.
Iris Hefets wanderte vor neun Jahren aus Israel aus, weil der Denkraum und die Zukunftsperspektive für sie zu eng wurden. Sie studierte Psychologie und ist in der Gruppe «Kritische Juden und Israelis» in Berlin aktiv.

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