von Ulf Petersen
Durch die Aufstellung unabhängiger Kandidaten und Kandidatinnen ist der kurdischen BDP bei den Parlamentswahlen in der Türkei am 12.Juni ein großer Erfolg gelungen.
«Wir wollen Kars zu einem Garten der Geschwisterlichkeit machen», sagt der Bürgermeister von Pazarç?k, Ayhan Erkmen von der BDP (Partei für Frieden und Demokratie). Kars ist eine Provinz im Nordosten der Türkei mit der gleichnamigen Hauptstadt, die durch Orhan Pamuks Bestseller Kar (Schnee) bekannt wurde. Sie war bis zum Frieden von Brest-Litowsk (1918) Teil Russlands, hat aber armenische Wurzeln.
Ich war zur Beobachtung der Parlamentswahlen am 12.Juni mit einer deutschen Delegation in der Region unterwegs und habe die Schwierigkeiten bei der Schaffung dieses «Gartens» sehen können. In der Provinz Kars leben heute mehrheitlich Kurden, die größte Minderheit sind Azeris (Aserbaidschaner). Sie betrachten sich, wie die vielen assimilierten Kurden, als Türken im Sinne der kemalistischen Staatsidee.
Eine Partei für alle Volksgruppen
Die BDP ist Teil der kurdischen Freiheitsbewegung. Sie wird oft als kurdische oder prokurdische Partei bezeichnet, tritt aber für die Rechte aller Volksgruppen ein. So wurde in Mardin mit Erol Dora zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei ein aramäischer Christ für den von der BDP getragenen Linksblock ins Parlament gewählt.
In Kars konnten erstmals auch türkische Wähler für eine kurdische Kandidatin gewonnen werden. Ihre Stimmen waren mitentscheidend, um die faschistische MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) vom zweiten Platz zu verdrängen. So wurde mit Mülkiye Birtane vom Linksblock erstmals eine kurdische Abgeordnete in Kars gewählt. Sie sagte dazu am Tag nach der Wahl:
«Kars ist ein Prototyp für die Türkei, unser Vorgehen kann ein Beispiel sein. Wir haben Unterstützung von den Gewerkschaften, von Azeris, Türken und von den 78ern (ein Verein linker Veteranen, der sagt, nur mit dem Linksblock könne die ‹sozialistische Seele von Kars› gerettet werden). Die Unterdrückten haben sich zum ersten Mal seit dem Militärputsch von 1980 zusammengetan und wieder Mut gefunden.»
Die Mühen der Ebene schildert uns Hüseyin Malk, der amtierende BDP-Bürgermeister von Igdir, einer Nachbarprovinz von Kars. In der Stadt Igdir leben 70.000 Menschen. Ungefähr die Hälfte sind Kurden, die andere Hälfte Azeris und Turkmenen. Viele Kurden sind erst seit dem Militärputsch von 1980 und in Folge der Dorfzerstörungen in den 1990er Jahren zugewandert. 86 Jahre lang haben rechte, nationalistische Parteien die Stadt regiert, zuletzt die Faschisten der MHP. Sie haben dafür gesorgt, das von den 412 kommunalen Angestellten 95% Azeris sind, alle Unterstützer der rechten und nationalistischen Parteien. Nur etwa 5% sind Kurden.
Die Regierungspraxis der BDP
Seit den Kommunalwahlen vom März 2009 regiert in Igdir erstmals die BDP. Zu diesem Zeitpunkt waren die Gehälter der städtischen Angestellten seit acht Monaten nicht gezahlt worden.
Die BDP-Stadtverwaltung hat innerhalb weniger Monate den kompletten Rückstand bezahlt und bis heute keinen einzigen der bestehenden Angestellten entlassen. Für Neueinstellungen fehlt das Geld. Dies hat die Leute in der Stadt sehr überrascht, denn das «natürliche» Verhalten jeder Partei war bisher, die Stellen möglichst schnell mit den eigenen Leuten zu besetzen.
Hüseyin Malk erklärt uns, nur mit dieser geduldigen Herangehensweise könne die politische Kultur langsam geändert und die ethnische Spaltung überwunden werden. Der Anspruch, für die «Geschwisterlichkeit der Völker» einzustehen, müsse sich in der Praxis beweisen.
Frauen in der Politik – und am Herd
Die von linken kurdischen Politikern beschworene «Geschwisterlichkeit» erinnert an die Situation der Frauen. Den meisten Leserinnen und Lesern dieser Zeitung ist sicher bekannt, wie sehr die kurdische Freiheitsbewegung die Befreiung der Frauen in den Mittelpunkt ihres Kampfes stellt. So hat auch nach diesen Wahlen die Fraktion des von der BDP getragenen Linksblocks den mit Abstand größten Frauenanteil, 11 von 36 Abgeordneten sind Frauen – ein Anteil von 31%, gefolgt von je 14% für die Regierungspartei AKP und die sozialdemokratisch-nationalistische Oppositionspartei CHP.
Pervin Buldan, die BDP-Abgeordnete für Igdir, erklärt uns, dass bei den Wahlen 2007 unter männlichen Wählern noch große Skepsis gegenüber den BDP-Frauen vorherrschte. Inzwischen hätten die Frauen ihre Stärke bewiesen, und viele Männer wollen sogar, dass man in schwierigen Wahlkreisen eine Frau aufstellt.
Die zahlreichen und starken kurdischen Bürgermeisterinnen und Parlamentarierinnen stehen im Kontrast zur Beständigkeit des patriarchalischen Alltags. So besteht die Wahlsiegesfeier in der BDP-Hochburg Digor fast ausschließlich aus Männern. Die Frauen winken uns bei der Einfahrt in den Ort von den Häusern und Gärten aus zu.
«Die Mentalität der Männer ändert sich äußerst langsam», sagt eine BDP-Aktivistin in Diyarbak?r. Sie betont aber, dass die Bewegung bei Gewalt gegen Frauen sofort eingreift und versucht, sehr strikt zu handeln. Durch kommunale Angebote wird versucht, die Frauen zu entlasten und zu stärken, die häusliche Arbeitsteilung wird aber nicht offensiv angegangen.
Unter den politischen bewussten Leuten gibt es weitergehende Veränderungen. Mülkiye Birtane erklärt uns, dass ihre politische und berufliche Arbeit – unter anderem beim Aufbau einer Frauenakademie in Diyarbak?r – nur möglich war, weil ihr Mann sie bei der Kinderbetreuung und im Haushalt sehr entlastet hat. Und bei der PKK-Guerilla ist bekanntlich die Gleichberechtigung der Frauen weitgehend umgesetzt.
Die Früchte
Welche Früchte bringt der «Garten der Geschwisterlichkeit» hervor, materialistisch betrachtet?
Der Nordosten der Türkei ist der ärmste Teil des Landes, die Winter dauern sechs Monate bei Temperaturen bis –40 Grad. Das Dorf, das wir am Wahltag besuchen, besteht aus Stein- und Lehmhütten, schlammigen Wegen und hat kein fließendes Wasser. Die neoliberale Privatisierungspolitik unter der AKP hat viele Agrar- und Industriebetriebe (Schuhfabrik und Schlachthof in Kars) zerstört. Die Arbeitslosigkeit in der Provinz liegt bei 60%, die Analphabetenquote bei 30%.
Linke Kommunalpolitik ist hier schwierig. So kann die BDP-Stadtregierung in Igdir für dringend nötige Straßenbauarbeiten in den Wohnvierteln nur Material bereitstellen, die Anwohner erledigen die Arbeiten selbst. Der Bürgermeister war der erste aus seinem Dorf, der einen Schulabschluss gemacht hat. Bildung und Gesundheitsversorgung für die Landbevölkerung sind der BDP wichtig. Aber es ist schon schwierig genug, alle 3500 Dörfer in der Provinz Igdir zu besuchen.
Aus dem Ort Digor wird es diesen Sommer einen Besuch in Kuba geben, um die dortige Praxis zu studieren. Mülkiye Birtane stimmt uns zu, dass der Aufbau von landwirtschaftlichen Kooperativen und kommunalen Betrieben wichtig wäre. Sie meint aber, dass hierfür die demokratische Autonomie, eine Hauptforderung des Linksblocks, umgesetzt werden müsse.
Der Autor hat mit einer Delegation die Wahlen in Kurdistan beobachtet.
Sehr zu empfehlen ist die hervorragende Wahlanalyse von Anne Steckner und Corinna Trogisch: «Parlamentswahlen in der Türkei: Gesellschaftliche Allianzen von oben und von unten», www.rosalux.de/publication/37612.
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