Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2011
Eindrücke aus einem besetzten Land
von Paul B. Kleiser
Bir Zeit ist ein sehr altes arabisches Dorf, das zu einer Stadt herangewachsen ist. In den letzten Jahren wurde die historische Innenstadt mit europäischen Geldern stilvoll restauriert. Die Universität von Bir Zeit, die bedeutendste Bildungseinrichtung in der Westbank,…

… geht auf eine 1924 gegründete Mädchenschule zurück. Seit den 90er Jahren erfolgte Zug um Zug der Ausbau zu einer vollen Universität mit neuen Fakultäten mit Bachelor- und Master-Abschlüssen; nur eine medizinische Fakultät gibt es noch nicht.

In den 90er Jahren war Bir Zeit die «nationale» Universität der Palästinenser, aber wegen der «Bantustanisierung» der Westbank, die die Bewegungsfreiheit der Palästinenser massiv einschränkt (man braucht einen Passierschein, wenn man z.B. von Ramallah nach Nablus reisen will), studieren dort heute hauptsächlich junge Menschen aus dem Großraum Jerusalem (Ramallah und Bethlehem). Der Frauenanteil liegt bei fast 60%, auch unter den Absolventinnen stellen sie die Mehrheit. Weil aber die Chancen auf dem Arbeitsmarkt recht dürftig sind (der größte «Arbeitgeber» ist die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) mit etwa 180.000 Angestellten), wandern viele Qualifizierte nach dem Examen ins Ausland ab, entweder in die Golfstaaten oder gleich nach Europa und die USA. Trotzdem hat die Universität eine wichtige Aufgabe für die Region und muss auf deren Bedürfnisse, etwa bei den technischen Berufen, eingehen, denn fast zwei Drittel der Einnahmen stammen aus den Studiengebühren.

Vertreibung und Enteignung

Wir haben die Ehre, eine längere Unterredung mit dem langjährigen Präsidenten der Universität, Prof. Gabi Baramki, zu bekommen. In seiner 15-jährigen Amtszeit wurde die Uni von der israelischen Militärverwaltung 19mal geschlossen. Nicht ein einziger Präsident einer israelischen Universität ließ sich dazu herab, gegen diese Maßnahmen oder die Besatzungspolitik zu protestieren!

Baramkis Vater war ein berühmter Architekt, der in den 20er Jahren für seine (christliche) Familie genau auf der Grenze zwischen West- und Ostjerusalem ein großes Haus plante und bauen ließ. In der Nachbarschaft wohnte die bekannte jüdische Familie Mandelbaum, die Kinder beider Familien spielten häufig miteinander. Während des Krieges, der 1948 die israelische Staatsgründung begleitete, musste die Familie vor den vorrückenden Truppen der Zionisten fliehen.

Als sie nach den Wirren wieder zurückkam und ihr Eigentum beanspruchte, entgegnete man ihnen: Ihr seid doch abwesend. Euer Eigentum wurde gemäß dem (bis heute gültigen) «Eigentumsgesetz» konfisziert und dem israelischen Staat überantwortet! Dieser Staat ließ das Anwesen zum «Museum of the Seam» umbauen, als das man es bis heute besuchen kann. Der Name Baramki ist dort als Architekt vermerkt, jedoch nicht als Eigentümer!

Heute ist Prof.Baramki Beauftragter der PA für Bildung und die Hochschulen. Er spricht über die BDS-Kampagne im Bereich von Kultur und Bildung und fordert die Lehrenden und Kulturschaffenden aller Länder auf, Israels Politik des «Weißwaschens», d.h. der Demütigung, Unterdrückung und Vertreibung der Palästinenser und deren mediale Rechtfertigung in In- und Ausland, möglichst fantasievoll zu bekämpfen.

Beim Boykott israelischer Güter gehe es auch darum, ins Bewusstsein zu rücken, dass die Umetikettierung der Produktion aus den besetzten Gebieten als israelische Waren und für den billigen Export die palästinensische Ökonomie zerstört und de facto zu einer reinen Dienstleistungsökonomie degradiert. Der Boykott müsse auch ein «Erziehungsprozess» werden, damit eine Mehrheit der israelischen Bürger mittelfristig erkennt, dass die wahnwitzige Politik ihres Staates das Land in den Abgrund führt.

Die BDS-Kampagne nimmt sich die internationale Kampagne gegen das Apartheidregime in Südafrika zum Vorbild. Es sei gelungen, die alte und enge Verbindung der Ben-Gurion-Universität zur Universität von Johannesburg zu beenden: Nachdem eine Delegation Bir Zeit besucht hatte, verabschiedeten die dortigen Professoren eine viel beachtete Resolution gegen die israelische Apartheidpolitik. Sie sei mit den ethischen Grundsätzen des neuen Südafrika unvereinbar. Auch zahlreiche Universitäten in den englischsprachigen Ländern haben sich dem Boykott angeschlossen, ebenso zahlreiche Gewerkschaften – Hafenarbeiter etwa hatten sich geweigert, israelische Schiffe zu entladen.

Auf dem Golan

Wir fahren auf die 1967 von Israel eroberten und bald danach annektierten Golan-Höhen, die völkerrechtlich zu Syrien gehören. Bis zur Eroberung bewohnten etwa 160.000 Menschen, vor allem Drusen, eine ziemlich liberale muslimische Glaubensrichtung, diesen Landstrich. Bis auf etwa 8000 wurden sie alle vertrieben und ihre Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Vor allem im Süden errichteten israelische Siedler umgehend Wehrdörfer, um sich das wasserreiche Gebiet (Zufluss zum See Genezareth) zu sichern und gegebenenfalls Damaskus mit Artillerie beschießen zu können. Außerdem ist der Berg Hermon hier der einzige Platz, an dem Israelis Wintersport treiben können.

Heute wohnen in acht Dörfern wieder 22.000 Drusen im Norden des Gebietes. Vor kurzem wurden am Naksa-Tag, der an die Katastrophe von 1967 erinnert, wieder 12 Menschen erschossen und über 200 verletzt. In Mashdal Shams geht die massiv gesicherte Grenze fast durch den Ort; das von der UNO überwachte Niemandsland ist – neben anderen Grenzgebieten – stark vermint, immer wieder kommt es zu Explosionen mit Toten und Verletzten – vor allem wenn Regen oder Schnee die vergrabenen Minen herausschwemmen. Die Grenze reißt zahlreiche Familien auseinander, und da fast keine Reisemöglichkeiten bestehen, muss man sich mit Lautsprechern behelfen. Auf diese Weise finden sogar Hochzeitsfeiern statt.

Der Biologe Dr.Taisseer ist Generaldirektor der Organisation Golan for Development (www.jawlan.org), ein beeindruckend gut funktionierendes Netzwerk von Gesundheitsdiensten, Bildungseinrichtungen, Kindergärten und kulturellen Aktivitäten wie Kunstkursen, Musik und Theater. Für die kulturellen Sommerkurse melden sich jedes Jahr Menschen aus aller Herren Länder an. Das Gesundheitszentrum – eine Art Ärztehaus, dessen ausgeklügelte Software inzwischen in die ganze Welt verkauft wurde – ist auf modernem Stand und sorgt dafür, dass nur Menschen mit erheblichen Erkrankungen in eine israelische Klinik gebracht werden müssen, denn solche Transporte sind zeitintensiv und scheitern womöglich an der Sturheit der Grenzbehörden. Die Menschen leben von Gemüse- und Obstanbau; die Überschüsse gehen größtenteils nach Israel.

Wir besuchen Fatima Twaib, die durch den 2007 von Uwe Dieckhoff gedrehten Film Fatima und Sumaya bekannt geworden ist. Nachdem sich die Suche ihres Dorfes etwas schwierig gestaltete, wurden wir von Fatima und ihrer Tochter überaus herzlich empfangen.

Ihr Vater war Beduine und jordanischer Parlamentsabgeordneter. Er schickte seine Tochter auf eine von Deutschen geleitete christliche Schule nach Bethlehem. Allerdings konnte sie die Schule nicht abschließen, weil sie jung verheiratet wurde. Eine ihrer Töchter (sie hat vier weitere Kinder) wurde mit einem offenen Rücken geboren, doch statt sich in das Schicksal zu fügen und das Kind zu verbergen, trug sie die Tochter bei Wind und Wetter auf dem Rücken zur Schule. Ein zufälliges Treffen mit einem Österreicher schuf die Grundlage für mehrere Operationen in Deutschland; die Tochter bekam auch einen Rollstuhl. Sie schaffte es sogar, an der Uni Englisch zu studieren, doch die Beschäftigungsmöglichkeiten für die Übersetzerin sind sehr eingeschränkt.

Mit ihren Erfahrungen und Deutschkenntnissen baute Fatima ein Netzwerk zur Unterstützung von behinderten Kindern auf. Gleichzeitig führt sie einen unablässigen, schwierigen Kampf gegen die traditionelle Heiratspolitik unter nahen Verwandten – die Ursache zahlreicher Missbildungen in dieser Region. Auch heute noch wird sie als engagierte Frau nicht überall mit offenen Armen empfangen.

Der Kampf ums Bleiben

Im israelischen «Friedensdorf» Neve Shalom leben jüdische und arabische Israelis Tür an Tür bewusst zusammen. Das Dorf wurde vor einigen Jahrzehnten von einem französischen Pater gegründet, der das in der Nähe gelegene Kloster davon überzeugen konnte, einen Teil des Landes für das Friedensdorf zur Verfügung zu stellen. Das Dorf verfügt über eine Reihe von Gemeinschaftsräumen für das Erlernen der jeweils anderen Sprache, für Diskussionen und Feiern. Wenn neue Familien hinzustoßen wollen, werden sie lange geprüft, ob sie dem zu erwartenden Druck gewachsen sind.

Es kommen auch zahlreiche Besucher aus dem Ausland vorbei. Wir hatten eine Diskussion mit Teilnehmern einer holländischen Gruppe, von denen einige meinten, die Bibel sei als Legitimationsgrundlage für den Staat Israel geeignet. Ich entgegnete ihnen, auch Holland habe bis zum Dreißigjährigen Krieg zum Deutschen Reich gehört; nach ihrer Logik müssten wir sie demnach mittels Bundeswehr «heim ins Reich» holen.

Am Eingang zu Dahers Weinberg, dem «Tent of the Nations», steht das Motto: «Wir weigern uns, Feinde zu sein.» Auf dem 42 Hektar großen Gebiet wachsen Wein, Mandel- und Olivenbäume. Das Gebiet ist von drei israelischen Siedlungen umzingelt und von fließendem Wasser abgeschnitten. Seit Jahren führt die Familie Nassar einen juristischen Kleinkrieg mit der Militärverwaltung und den Behörden, denn man will sie von ihrem angestammten Boden vertreiben. Sie hat jedoch das Glück, individuelle Besitzurkunden der Osmanen und Briten vorweisen zu können, die beweisen, dass ihr der Grund und Boden seit Generationen gehört. Trotzdem belaufen sich die Kosten für die juristischen Auseinandersetzungen inzwischen auf 140.000 Dollar.

Die Familie wäre längst pleite, würden nicht Freunde in aller Welt sie unterstützen und die Geschichte ihres Kampfes in die Öffentlichkeit tragen. Sie hat Speicher gebaut, um das Regenwasser zu sammeln, das sie für die Bewässerung der Pflanzungen braucht; das Trinkwasser muss sie mühsam heranschleppen. Auf eine der beiden Zufahrten haben Siedlern 500 Meter vor dem Eingang einen riesigen Steinhaufen gekippt, sodass Fahrzeuge nicht mehr zum Eingang durchkommen.

Da jedes Jahr ein Sommercamp mit jungen Leuten stattfindet, wurden ein paar große Zelte als Übernachtungsmöglichkeit aufgebaut. Die Militärverwaltung verlangt ihren «Abriss», die Errichtung von Festbauten (!) sei nicht gestattet. Trotz aller Provokationen und Versuche, die Familie mit hohen Geldzahlungen zu vertreiben bzw. dazu zu drängen, dass sie geht, lässt sie sich nicht entmutigen und kämpft mit Unterstützung eines großen Freundeskreises weiter für ihre Rechte.

Jeden Freitag demonstrieren in Westjerusalem die «Frauen in Schwarz» gegen die israelische Besatzungspolitik. Die meisten jungen Frauen, die sich an der Kundgebung beteiligen, kommen aus englischsprachigen Ländern und sind nur für ein paar Wochen oder Monate in Jerusalem.

Wir statten den Friedensfrauen einen Solidaritätsbesuch ab und diskutieren die aktuelle Lage unter der Regierung Netanyahu/Lieberman. Ich unterhalte mich länger mit einer 90 Jahre alten, aus Freiburg stammenden Jüdin, die seit den 30er Jahren in Jerusalem wohnt. Sie äußerst sehr pessimistische Ansichten über den beschleunigten Verfall der israelischen Gesellschaft und ihre Dialogunfähigkeit mit den Palästinensern. Seit der Zuwanderung der «Russen» in den 90er Jahren und seit der Regierung Sharon habe die Fähigkeit des Landes, das internationale Umfeld zu verstehen, deutlich abgenommen. Daher werde der Aufbruch in Arabien nicht als Chance, sondern als Bedrohung wahrgenommen.

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