Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2011
Begegnung mit der Bewegung des 15.Mai
von Nacho Álvarez
Die Bewegung des 15.Mai wird das politische und soziale Leben Spaniens stark verändern.

Am 15.Mai und an den nachfolgenden Tagen drängten sich die Menschen zu Tausenden auf den Straßen und Plätzen und riefen: «Sie vertreten uns nicht!» Ihr Zorn war angefacht worden durch die Sparmaßnahmen der sozialdemokratischen Regierung Zapatero, aber darunter hatten sich über Jahre der Überdruss an der verbreiteten Korruption und das Gefühl aufgestaut, dass die politischen und gewerkschaftlichen Organisationen, die die Interessen der lohnabhängigen Klassen vertreten müssten, ihrer Verantwortung nicht mehr nachkommen.

Gewerkschaften und Regierung hatten im Februar dieses Jahres einen Wirtschafts- und Sozial«pakt» unterzeichnet, mit dem der Reigen der Mobilisierungen gestoppt werden sollte, der mit dem Generalstreik am 29.September 2010 eröffnet worden war. Eine Stimmung der Demobilisierung legte sich über die Bevölkerung. Diese Stimmung hat die Bewegung vom 15.Mai in großen Teilen der Gesellschaft nun umgekehrt – vor allem unter den Aktiven der sozialen Bewegungen und Gewerkschaftern. Das allein ist schon ein großer Erfolg. Die Rebellion hat die Straße wieder, der Protest gegen Massenarbeitslosigkeit, Einschnitte in die Löhne und Sozialleistungen, prekäre Arbeit und gegen die ungerechte Rettung der Banken, die weiterhin enorme Profite machen, verschafft sich öffentliches Gehör.

Auf der Straße geht es jetzt darum, wie die Empörung in eine nachhaltige, massenhafte Protestbewegung münden kann. In Madrid, an der Puerta del Sol, hat sich die Bewegung wochenlang täglich versammelt und in verschiedenen Ausschüssen und Arbeitsgruppen organisiert, die u.a. politische, Umwelt-, Wirtschaft- und Bildungsthemen behandeln. Jede Nacht kommen sie zu einer riesigen Vollversammlung an der Puerta del Sol zusammen, die die Ergebnisse der Arbeitsgruppen zusammentragen. Am 28.Mai fanden solche Versammlungen auch in zahlreichen Stadtteilen und Vororten von Madrid statt.

Es ist nur schwer vorstellbar, dass eine Bewegung dieser Größenordnung plötzlich in der Versenkung verschwinden kann: Die Auflösung von Versammlungen durch die Polizei, wie vor kurzem in Barcelona, scheint die Bewegung nicht zu brechen, eher Solidarität und gemeinsame Strukturen zu stärken, die Beteiligten machen weiter.

Die Forderungen

Doch wird die Bewegung, zumindest in Madrid, jetzt mit wichtigen Herausforderungen konfrontiert.

Die erste betrifft ihre Forderungen. Zu Anfang waren ihre Losungen ziemlich allgemein, das hatte den Vorzug, dass alle sich angesprochen fühlen konnten und eine politische Generalkritik des Systems möglich war – z.B. in der Losung: «Für eine wirkliche Demokratie». Die Forderungen müssen jetzt aber präzisiert und ein Konsens über sie hergestellt werden. Die Versammlungen werden nicht von Dauer sein können, wenn die Menge, die zu ihnen strömt, sie nicht als nützliches Instrument für einen gesellschaftlichen Wandel empfindet. Vorschläge, was sich wie ändern soll, müssen deshalb debattiert und verbreitet werden.

In den Wochen nach dem 15.Mai hat sich die Bewegung in Madrid diesen Herausforderungen gestellt. Einige der erarbeiteten Forderungen lauten:

– eine Wahlrechtsreform, um die Demokratie repräsentativer zu machen, und ein wirkliches Verhältniswahlrecht;
– Kampf gegen die Korruption und totale politische Transparenz;– effektive Gewaltenteilung;
– Schaffung von Kontrollmechanismen für die Bürger, die Politiker müssen zur Verantwortung gezogen werden.

Die Forderungen zielen auf die notwendige demokratische Erneuerung unseres politischen Systems. Wenn sie sich jedoch einzig auf Wahlrechts- und institutionelle Fragen beziehen, führt das in eine Sackgasse. Die Losung «Democracia real ya» muss darüber hinausgehen und auch andere Bereiche der Gesellschaft und der Macht einbeziehen. Und es müssen auch soziale und wirtschaftliche Fragen diskutiert und Forderungen dazu verabschiedet werden, denn auch sie sind ein Ursprung der tiefen Unzufriedenheit in der Bevölkerung.

Ein paar solcher Forderungen wurden in den Versammlungen zu Wirtschaftsfragen schon angesprochen:
* Verbot von Entlassungen in Unternehmen, die Gewinne machen;
* Aussetzung der Reform des Arbeitsgesetzes und der Rentenreform und Volksabstimmung über diese Reformen;
* stärker progressive Besteuerung und massive Kontrolle der Steuerhinterziehung, Schließung der Steuerparadiese;
* Schaffung einer öffentlichen Bank zur Finanzierung der sozialen Ausgaben, Verstaatlichung der geretteten Banken;
* Streichung der Mietschulden für Menschen, die deswegen ihre Wohnung verloren haben, garantierte Sozialmieten;
* Offenlegung der Schulden und Volksentscheide über finanzielle Rettungsaktionen für die spanische Wirtschaft;
* tägliche Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnverlust, Umverteilung der Hausarbeit; drastische Umverteilung des Reichtums, ein Steuersystem, das auch eine internationale Umverteilung ermöglicht, usw.

In dem Maße, wie die Forderungen weiter entwickelt und konkreter werden, wird auch verhindert, dass die Bewegung sich tot läuft. Andererseits darf das Drängen nach greifbaren Sofortforderungen nicht die notwendige Debatte in der Vollversammlung, den Arbeitsgruppen oder den Stadtteilversammlungen ersticken, sie müssen kollektiv erarbeitet werden.

Wir müssen uns in Acht nehmen vor den Gefahren einer Bürokratisierung und eines Autismus der Strukturen der Bewegung – an der Puerta del Sol lassen sich diese Risiken manchmal beobachten. Diejenigen, die Verantwortung tragen als Sprecher oder Koordinatoren und sich zu ständigen internen Koordinierungs- und Kommunikationsstrukturen zusammenfinden, müssen rotieren. In diese Richtung wirken auch die Vernetzung mit real stattfindenden Kämpfen (gegen die Privatisierung des Kanals Isabel II, gegen Lohnkürzungen bei der Feuerwehr u.a.) oder öffentliche Protestaktionen.

Minderheit und Mehrheit

Alle Versammlungen funktionierten bislang nach dem Konsensprinzip – eine einzige Person konnte eine ganze Versammlung blockieren. Das Recht von Minderheiten, nicht einverstanden zu sein, ist eine wichtige Errungenschaft. Bislang war das der Bewegung sehr nützlich: die Beschlüsse, die sie gefasst hat, sind von einer sehr breiten Mehrheit getragen.

Aber die Methode hat natürlich ihre Grenzen, sie funktioniert nur, wenn die Minderheit anerkennt, dass sie in der Minderheit ist, und die Mehrheit nicht daran hindert weiter zu gehen. Sie muss sich an dem Punkt selber zurücknehmen. Das gelingt nicht immer, und dann kann es eine Diktatur der Minderheit geben. Ein Aufruf wird nicht immer reichen, Menschen, die nicht soviel Zeit zur Verfügung haben, können leicht gefrustet werden. Die Dampfwalze von Mehrheitsentscheidungen per Abstimmungsmarathon ist allerdings genauso gefährlich. Derzeit wird deshalb diskutiert, dass ein Beschluss als angenommen gilt, wenn er vier Fünftel der Versammlung hinter sich hat.

All diese Probleme sind kein Zeichen der Ermüdung, sondern reale Herausforderungen. Denn wir wollen mehr, als nur den Unmut sichtbar machen. Auf vielen Transparenten stand es so: «Wir haben schon die Sonne [am Sonnentor, der Puerta del Sol], jetzt wollen wir den Mond.»

aus: Viento Sur, 30.Mai 2011

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