von Terry Conway
Am englischen Beispiel erleben wir, wohin die Reise geht: Obwohl es der Übermaß an Reichtum in den Händen Weniger ist, der die Krise verursacht, weil er keine vernünftigen Anlageformen mehr findet, kriegen diese Leute den Hals immer noch nicht voll. Die demokratische Maske fällt, der Raubzug an Lebenschancen und öffentlichem Eigentum wird brutaler; hinter der Diktatur des Marktes lauert der Polizeiknüppel.
Im ersten Jahr ihrer Amtszeit hat sich die konservativ-liberale Regierungskoalition von David Cameron durch eine Sparpolitik hervorgetan, vor deren Brutalität die Regierung Thatcher erblasst wäre. Ungleichheit und Verarmung haben nochmals einen Quantensprung gemacht, Korruption ist bei Medien, Polizei und Politikern verbreitet, der öffentliche Dienst liegt am Boden. Ihr zweites Jahr scheint von massiven Arbeitskämpfen geprägt zu werden und von offenem Aufruhr in den ärmsten Vierteln der Städte, wo die Menschen nichts mehr zu verlieren haben und den offenen Konflikt mit dem Staat nicht mehr scheuen.
Zertretene Würde
Der Funke, der den Brand Anfang August entzündete, waren zwei Polizeiaktionen. Die erste war die Tötung Mark Duggans durch bewaffnete Polizeibeamte am 5.August und die anschließende herablassende Behandlung seiner Familie – einschließlich des Versäumnisses, diese aufzusuchen, um sie über Marks Tod zu informieren.
Dagegen demonstrierte eine berechtigterweise wütende Menge am 7.August vor der lokalen Polizeistation. Die Polizei weigerte sich herauszukommen und eine Stellungnahme abzugeben. Es war dieses Verhalten der Polizei, das den Aufruhr auslöste, eine Tatsache, die in nahezu allen späteren Berichten übergangen wurde.
Bei dieser Demonstration griff die Polizei eine 16-Jährige mit Schlagstöcken an, wie ein auf YouTube veröffentlichter Augenzeugenbericht zeigt. Der Videoclip ist in puncto Brutalität der Polizei eindeutig. Es war praktisch unvermeidbar, dass eine Aggression dieser Art einen solchen Wutausbruch in dem Stadtteil provozierte. Berichte aus anderen Landesteilen erzählen Ähnliches: so in Hackney im Ostteil von London oder in Birmingham. Hackney ist eine der 29 Gemeinden Großbritanniens, in denen mehr als jedes fünfte Kind in großer Armut lebt. Auf eine offene Stelle kommen hier 57 Bewerber.
Es gibt Berichte darüber, wie junge Leute zunehmend Polizeischikanen ausgesetzt sind, nur weil sie sich zu einer beliebigen Tageszeit auf der Straße aufhalten. Vor allem junge männliche Schwarze werden willkürlich angehalten und durchsucht, ein Verhalten, das in der schwarzen Community zutiefst verhasst ist. Die Wahrscheinlichkeit, angehalten und durchsucht zu werden, ist für Schwarze 26 mal größer als für Weiße.
Die Unabhängige Kommission für Beschwerden wegen Polizeiübergriffen (Independent Police Complaints Commission) hat im Fall Mark Duggan ungewöhnlich schnell reagiert und berichtete am 9.August, ihre ballistische Untersuchung hätte ergeben, dass Duggan nicht als Erster auf die Polizisten geschossen hat. Damit wurden die Behauptungen Lügen gestraft, die Beamten hätten in Notwehr gehandelt. Doch niemand vertraut darauf, dass es Gerechtigkeit geben kann – die Liste der Todesfälle durch die Hand der Polizei ist lang, und noch nie wurde deswegen ein Polizist unter Anklage gestellt.
Wer will noch was von der Jugend?
Während das Misstrauen in die Polizei unter den Schwarzen aus guten Gründen besonders ausgeprägt ist, haben die Ereignisse der letzten Jahre allerdings breiteren Unmut hervorgerufen.
Der Polizistenmord am Zeitungsverkäufer Ian Tomlinson während der G20-Proteste am 1.April 2009 in London und die brutale Niederknüppelung der behinderten studentischen Aktivistin Jody McIntyre während der Studentendemonstrationen im vergangenen Jahr trugen die Bilder der Polizeigewalt in Haushalte, die in den vergangenen Jahren nicht bemerkt hatten, wie an der schwarzen Community eine neue Taktik ausprobiert wurde: die willkürliche Schikane und Entwürdigung.
Die neoliberale Politik, die sich in letzter Instanz auf den Polizeiknüppel verlässt, fährt nun die Ernte ein. In Haringey, wo Mark Duggan lebte, wurde durch die Streichung von 41 Mio. Pfund (= 46 Mio. Euro) für die kommunale Verwaltung die Jugendfürsorge der Gemeinde zerstört. Das trifft für die meisten innerstädtischen Gebiete zu – die Jugendfürsorge gehört zu den Bereichen, die als erste von Camerons Sparpolitik getroffen wurden.
Gleichzeitig hat die Abschaffung der (sehr geringen) Ausbildungsbeihilfe von 20–30 Pfund, die 630000 jungen Leuten die Möglichkeit gab, über das 16.Lebensjahr hinaus eine Ausbildung zu machen, in der jungen Generation das Gefühl verstärkt, dass sich niemand um sie kümmert; dasselbe gilt für die Verdreifachung der Studiengebühren an den Universitäten. Frust und Wut stauen sich auf. Das sind einige der Faktoren, die zu der Explosion geführt haben.
Im Juli forderte David Lammy, Parlamentsabgeordneter von Tottenham, die Regierung zum Handeln auf: in seinem Wahlkreis ist die Arbeitslosigkeit um 10% gestiegen, über 10000 Menschen suchen einen Job. Bewohner bezeugten in Interviews, dass Tausende junger Menschen bis Ende 20 noch nie eine Stelle finden konnten. Kann es da überraschen, dass sie Geschäfte mit Designersportkleidung, Mobiltelefonen, TV-Geräten und MP3-Playern plündern, da sie doch wissen, dass sie nie so viel verdienen werden, um sich solche Dinge kaufen zu können?
Die Kapitalisten können nicht beides haben: Einerseits sagen sie, dass man diese Dinge als Statussymbol braucht, um persönliche Erfüllung zu finden, andererseits zahlen sie in den meisten Jobs, die angeboten werden – sofern es überhaupt welche gibt – nur Armutslöhne mit kurzzeitig befristeten Verträgen.
Dagegen haben es die sehr Reichen, soweit die Erinnerung reicht, noch nie so gut gehabt wie heute. Die High Pay Commission (eine unabhängige Kommission, die die Entwicklung der Einkommen am oberen Ende beobachtet) hatte im Mai dieses Jahres zu berichten, dass britische Topverdiener im letzten Jahr ihre Bezüge über 50% steigern konnten, während die Realeinkommen für die übrige Bevölkerung zum ersten Mal seit 30 Jahren zurückgingen.
Derzeit liegen die Einkommen der Topmanager und Banker beim 145-fachen des britischen Durchschnittseinkommens. Wenn der Trend anhält, so die Kommission, werden die oberen 0,1% der Einkommensbezieher im Jahr 2025 rund 10% des Gesamteinkommens einstreichen. Am 8.August legte die Kommission nach: Manager der FTSE-100-Unternehmen (so was wie die Dax-Unternehmen) bekommen eine durchschnittliche Jahresrente von 175000 Pfund (200000 Euro); die britische Durchschnittsrente liegt bei kümmerlichen 5860 Pfund (6700 Euro).
Und diese Regierung will die Armen noch ärmer machen. Zugleich ist sie finster entschlossen, den 300000 Menschen, die den Spitzensteuersatz von 50% auf Einkommen über 150000 Pfund zahlen, nochmals gewaltige Geldsummen zukommen zu lassen. Londons Bürgermeister Boris Johnson hat die Abschaffung des Spitzensteuersatzes gefordert, und auch der Millionär und Finanzminister George Osborne hat gesagt, dass er sie streichen will.
Das britische Kabinett ist eine Regierung von Reichen für Reiche. Von den 29 Kabinettsmitgliedern sind 24 Multimillionäre, darunter Cameron, Osborne und der Liberale Nick Clegg.
Kein Wunder, viele sagen: Das sind die wirklichen Plünderer, die wirklichen Kriminellen. Ein Leserbrief im Guardian drückte es so aus: «Die Randalierer tun auf der Straße nur, was die Banker dem Land antun. Anders als die Banker werden die Randalierer zweifellos zur Rechenschaft gezogen werden.»
Der linke Labour-Abgeordnete John McDonnell schrieb in derselben Zeitung: «Wir ernten, was in den letzten drei Jahrzehnten durch die Schaffung einer grotesk ungleichen Gesellschaft gesät wurde. Deren Ethos ist die Devise: Nimm dir, was du kriegen kannst, mit allen Mitteln. Es ist eine Gesellschaft von Plünderern, geschaffen von Abgeordneten mit ihren Vergütungen, Bankern mit ihren Prämien, steuerhinterziehenden Unternehmen, auf Bestellung arbeitenden Journalisten, bestechlichen Polizisten. Jetzt hat eine Gruppe entfremdeter Jugendlicher ihre Chance ergriffen...»
Diese Dinge mögen die Teenager, die aus einem Sportgeschäft 100 Pfund teure Trainingsanzüge mitgehen ließen, nicht im Sinn gehabt haben. Was sie aber wussten war, dass es Leute gibt, die Wohlstand und Privilegien genießen und ihre Macht dazu verwenden, Menschen in Armut zu halten. Ein Aufstand ist ein Anfall zerstörerischer Wut und unartikulierten Protests – es ist einer der Wege, auf denen sich diejenigen Gehör verschaffen, die keine Stimme haben.
Das letzte Argument: der Polizeiknüppel
Jetzt versucht man, die Ereignisse auf den Straßen seit Mark Duggans Tod dazu zu benutzen, um Bürgerrechte weiter auszuhöhlen und das Recht auf Widerstand zu beschneiden. Dagegen müssen wir uns wehren. An die Polizei wurden auf britischen Straßen soviel Gummigeschosse ausgegeben wie noch nie – wir wissen von ihrer Anwendung in Nordirland, wie tödlich sie sein können. Wasserwerfer sind hier nie eingesetzt worden, jetzt stehen sie der Polizei auf Anforderung innerhalb von 24 Stunden zur Verfügung, über den Einsatz der Armee wird noch immer diskutiert.
Sehr positiv ist, dass Bündnisse gegen Sozialkürzungen wie die Coalition of Resistance und besonders die Black Activists Rising Against The Cuts (BARAC) ihre Stimme erhoben haben und über die wirklichen Ursachen der Unruhen und über die Politik sprechen, die erforderlich ist, um den armen Stadtteilen eine Zukunft und den jungen Menschen neue Hoffnung zu geben. In den kommenden Monaten müssen sich Gewerkschaften und radikale Linke Gehör verschaffen und die Offensive der Regierung zurückdrängen.
Terry Conway ist Redakteurin von International Viewpoint und führendes Mitglied von Socialist Resistance, britische Sektion der IV.Internationale.
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