Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2011

Vor vierzig Jahren starb Georg Lukács (1885–1971)

von Jürgen Meier

Als der Schriftsteller Tibor Déry vor vierzig Jahren am Grab seines Freundes Georg Lukács stand, wandte er sich mit der folgenden Frage an die große Schar der Trauergäste: «Was war es, was uns für seine Arbeit und seine Persönlichkeit gleichermaßen einnahm? In einem Wort zusammengefasst möchte ich sagen: seine Liebe zum Menschen.»

Bedenkt man, dass Lukács, wie Déry in seiner Trauerrede sagte, zwar «bescheiden im Umgang mit Menschen» war, aber «unbarmherzig im Verkehr mit Ideen», so zeigt sich diese Liebe zum Menschen bei Lukács in einer Art Differenzierung zwischen dem einzelnen Alltagsmenschen und dessen Bewusstsein und dem gesellschaftlichen Sein.
Richtiges oder falsches Bewusstsein?

Das war die Frage, die Lukács’ Leben und Werk durchzieht. Während er den Menschen achtungsvoll gegenüber trat, bekämpfte er deren Bewusstsein, wenn ihm dieses ein falsches zu sein schien. Für die Aufkündigung der Freundschaft zu seinem ehemaligen Heidelberger Studienfreund Ernst Bloch soll allein dessen Wertschätzung für den Dramatiker Beckett verantwortlich gewesen sein. Bloch habe hier sein falsches, sein «romantisches Bewusstsein» offenbart.

Lukács führte zeitlebens einen «unbarmherzigen» Streit um die richtige Sicht der Wirklichkeit. Kitsch, schrieb Lukács in seiner Ästhetik, richte sich nicht darauf, «durch wahrheitsgetreue Wiedergabe der Welt zum Wesen der Menschen zurückzufinden, sondern im Gegenteil darauf, diese so zurechtzurücken ... dass sie den sachlich unberechtigten Wünschen und Illusionen entspricht, sie illustriert».

Sein Buch Geschichte und Klassenbewusstsein, das bereits 1923 im Malik-Verlag erschien, beeinflusste später maßgeblich die «68er Bewegung» in Westeuropa. «Die Achtundsechziger», schreibt die Lukács-Schülerin Agnes Heller, «suchten krampfhaft nach einer messianischen Erkenntnistheorie und Anthropologie. Lukács hatte in der Studie unter Verwendung von Kantischen und Hegelschen Figuren eine Analyse der bürgerlichen Entfremdung vorgelegt.»

Über 40 Jahre nach seinem Erscheinen ergriff dieses Buch mit seiner These, dass das über ein entsprechendes Bewusstsein verfügende Proletariat in dem Augenblick die Macht erringe, da es erkenne, dass es zur Erlösung der Welt berufen ist, die westeuropäische Studentenbewegung. Dieses «messianische Sektierertum», so Lukács kurz vor seinem Tod, sei für den Erfolg von Geschichte und Klassenbewusstsein in Westeuropa verantwortlich gewesen.

Lukács hatte sich zu dieser Zeit längst von seinem Frühwerk distanziert und beobachtete den Einfluss seines Buches mit großer Skepsis. In diesem Buch, so Lukács selbst, fehle die Universalität des Marxismus, die aus der anorganischen Natur die organische ableite und aus der organischen Natur, vermittelt durch den Prozess der Arbeit, die Gesellschaft. Auf die bürgerlichen Intellektuellen hätten gerade diese Mängel des Buches – das Fehlen des ontologischen Marxismus – überzeugend gewirkt.

In einem Brief an Lukács bestätigt Frank Benseler diese Einschätzung. «Im Grunde ist das die Situation der gesamten fortschrittlichen bürgerlichen Intelligenz. Sie alle wünschen Gerechtigkeit; glauben dies aber denkend erreichen zu können durch geistige Formen usw.; sie scheuen vor den Konsequenzen des wahren Engagements zurück» (6.Dezember 1961).

Entideologisierte Intelligenz

Lukács hatte diese Affinität der bürgerlichen Intelligenz zum Ideologisieren bereits dreißig Jahre vor diesem Brief beschrieben. In seinem Essay Grand Hotel Abgrund (1933) schreibt er, die Intellektuellen seien «gebannt im Zauberkreis der Ideologie» und reagierten auf die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen «mit einem falschen Bewusstsein», das nicht einfach vom Himmel falle oder auf einen bösartigen Charakter zurückzuführen sei.

«Die gesellschaftliche Arbeitsteilung bringt es notwendig mit sich, dass die Ideologen stets an die unmittelbar vorangegangenen und zeitgenössischen Ideologen anknüpfen, dass sie ihre Kritik der Gegenwart stets in der Form einer Kritik der gegenwärtigen und vergangenen Ideologien vollziehen.» Sie bezögen sich nicht auf die Wirklichkeit, sondern auf Theorien über diese Wirklichkeit, zitierten Nietzsche, Heidegger, Sartre oder wen auch immer, und blieben in ideologischen Problemen stecken.

Für Lukács war Ideologie aber nicht mit Wirklichkeit identisch. Die Aufgabe der Ideologie sah er darin, «die von der Ökonomie im gesellschaftlichen Leben ausgelösten Konflikte bewusst zu machen und auszufechten» (Ontologie). Da die Intelligenz aber die Ideologie selbst schon als Wirklichkeit einstufe, und sich als geistige Elite für völlig unideologisch ansehe, könne sie nicht den «Kernpunkt des Klassenkampfes, die Scheidung der Klassen, von Revolutionen und Konterrevolutionen: die Frage der Ausbeutung klar» erblicken.

Dreißig Jahre später (1963) bezeichnet Lukács diese Eigenschaft der Intelligenz als fehlendes «ontologisches Bewusstsein», womit er ein anderes meinte als das Klassenbewusstsein, das er 1923 in Geschichte und Klassenbewusstsein beschrieben hatte. Die bürgerliche Intelligenz beziehe sich – bedingt durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung, in der sie Produktion und Propaganda der Ideologie als Lebensbeschäftigung, als geistige und materielle Basis der eigenen Existenz betreibe – auf die eigenen Ideen und glaube so tatsächlich an die eigene gesellschaftliche Führerrolle, deren Bewusstsein das gesellschaftliche Sein präge. Daraus würde die Negation jeglicher Ideologie abgeleitet und der «Entideologisierung» das Wort gepredigt, die den Einzelmenschen auffordere, rein rational zu handeln. Um echten Konflikten den Nährboden zu entziehen, komme es nur darauf an, sich rein «sachlich» durch rationelle Vereinbarungen und Kompromisse zu einigen.

In sogenannten Weiterbildungsseminaren wird diese Form der «Entideologisierung» in allen modernen Betrieben und Institutionen heute trainiert. Die Entideologisierung bedeute «die unbeschränkte Manipulierbarkeit und Manipulation des gesamten Menschenlebens». Diese «entideologisierte» Einstellung zur Wirklichkeit, so Lukács, nehme nur den einzelnen Menschen zur Kenntnis, nicht aber das gesellschaftliche Sein, das unabhängig vom Einzelmenschen existiere, das dieser bei Geburt vorfindet und in das er sich so oder so fügen muss. Der Fetisch der Freiheit, der auf dieser Basis der «Entideologisierung» gedeihe und den Lukács in den USA als vorherrschend kritisierte, sei ein «höchst ideologischer» Begriff, der die Menschen mit falschem Bewusstsein fülle, indem er sie von ihrer Gattungsmäßigkeit isoliere. Die Fetischisierung der Freiheit frage nicht nach dem sozialen Gehalt der menschlichen Beziehungen, sondern «partikularisiere» den Menschen zu einem simplen Bedürfnisatom.

Sozialismus ist totale Demokratie

Der Ruf nach «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» der bürgerlich-demokratischen Revolutionen schuf die politische Gleichheit der Menschen und beseitigte aristokratische Privilegien. «Dass damit die ökonomischen und sozialen Privilegien unangetastet blieben», so Lukács 1942, «dass die faktische ökonomische und soziale Nichtgleichberechtigung der Menschen erst in der vollendeten Demokratie der bürgerlichen Gesellschaft ihre Widersprüche in reiner Form, auf höchster Stufe entfaltet hat, bildet das große Problem des Weitergehens der Menschheit über die politische Demokratie» hinaus (Zur Kritik der faschistischen Ideologie).

Die «bürgerliche Art der Demokratisierung», schrieb er 1968 in Anlehnung an Marx, führe dazu, dass für den Menschen die anderen «Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit» bilden.

Lukács, der den Untergang der Sowjetunion nicht mehr erlebte, stützte seine Theorie von der «sozialistischen Demokratie» auf die Alltagserfahrung der Menschen. Im Alltag sind die Menschen arbeitende, sich reproduzierende und genießende. Anders als die «politische Demokratie» der bürgerlichen Art, sei die «sozialistische Demokratie» unmittelbar und total. Sie grenze die Felder der Arbeit nicht aus, wie die «politische» oder die «repräsentative Demokratie», die sich in die Ökonomie und die Verwertung der Arbeit nicht einmischt.

«Die sozialistische Demokratie – basiert auf dem tätigen realen Menschen, wie er wirklich ist, wie er in seiner eigenen Alltagspraxis zu wirken gezwungen ist – verwandelt in ihrer äußeren und zugleich inneren Entfaltung vom Menschen unbewusst (oder mit falschem Bewusstsein) hervorgebrachte Produkte in zielbewusst für den Menschen selbst geschaffene Gegenständlichkeiten, deren Hervorbringen mithin der subjektiven Tätigkeit einen Sinn, eine Erfüllung verleiht, die damit den daran mitwirkenden Mitmenschen aus einer Schranke des eigenen Seins, der eigenen Praxis in deren unentbehrlichen und als solchen bejahten Mitarbeiter und Helfer verwandeln.» (Sozialismus und Demokratisierung.)

Die Rätebewegung, entstanden 1871 in Paris, neuerweckt 1905 und 1917 in der russischen Revolution, war für Lukács ein Beispiel für diese «neue» Form der Demokratie, die nicht die Erfindung einzelner Revolutionäre sei, sondern die das Volk selbst auf die Tagesordnung der Geschichte setze. Da dieser demokratische Prozess erlernt werden müsse, forderte Lukács dazu auf, sich aktiv in die Formen der bürgerlichen Demokratie einzumischen und deren Möglichkeiten demokratisch auszudehnen.

Sozialismus ist eben nicht einfach die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, sondern Sozialismus ist die totale Demokratie, mit deren Mitteln der Widerspruch von einzelnem Menschen und dessen Gattungsmäßigkeit in ein bewusstes Verhältnis gerückt wird, das sich nicht mehr unbewusst hinter dem Rücken der Menschen, auf einem abstrakten Markt, nur zu einem falschen, weil partikularen Bewusstsein, entwickeln lässt. Der Weg zu diesem Ziel ist nicht durch den Willen einzelner Menschen, Gruppen oder Parteien – sei ihre Erkenntnisfähigkeit auch noch so groß – gewaltsam zu erreichen, sondern ist ein qualitativer Sprung, der am Ende einer kontinuierlichen Steigerung des demokratischen Bewusstseins der Gesellschaft steht.

 

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