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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2011
Die israelische Bevölkerung zahlt einen hohen Preis für den «jüdischen Staat»

Shir Hever

Die israelische Gesellschaft steckt in einer tiefen Krise. Sie ist das Ergebnis des fast 45-jährigen Versuchs, auf Kosten der ansässigen palästinensischen Bevölkerung einen jüdischen Staat durchzusetzen. Die wirtschaftlichen Kosten der Besatzung, gepaart mit der neoliberalen Ausrichtung der Regierungspolitik, bedrohen den israelischen Staat inzwischen mehr als jede Kassam-Rakete.
In der ersten Periode der Besatzung, 1967–1986, reichten wenige, in den besetzten Gebieten stationierte Truppen aus, um die Zivilbevölkerung zu kontrollieren. Die Kosten waren gering, und Israel profitierte von der Besatzung auf verschiedene Weise:

– es belastete die Palästinenser mit Steuern, deren Einnahmen die Ausgaben für die Besatzung übertrafen;

– Israelis konnten ihre Waren in den besetzten Gebieten absetzen und palästinensische Arbeiter zu sehr niedrigen Löhnen anheuern;

– israelische Bauunternehmer besorgten sich ihr Baumaterial aus palästinensischen Steinbrüchen; der Bevölkerung in den besetzten Gebieten wurden Land und Wasserquellen weggenommen; illegale Siedlungen entstanden.

Neoliberale Wende

In den 80er Jahren änderten sich die Verhältnisse. Der palästinensische Widerstand (die erste Intifada fand 1987 statt) zwang die israelische Regierung, die militärischen Kontrollpunkte in den besetzten Gebieten auszubauen und mehr Truppen zu schicken, um die illegalen Siedlungen zu schützen. Die Exporte in diese Gebiete halbierten sich, der Tourismus nach Israel ging zurück. Die Besatzung hörte auf, ein gewinnbringendes Geschäft zu sein und wurde mehr und mehr zu einer Belastung für den israelischen Haushalt.

Das verstärkte militärische Engagement und die Expansion der Siedlungstätigkeit hatten auch zur Folge, dass die Intervention der Regierung in die Wirtschaft zunahm. Dies wurde von neoliberalen Ökonomen zunehmend kritisiert.

Nach dem 11.September 2001 versuchte die israelische Führung, ihren Kampf gegen die palästinensische Befreiungsbewegung als Teil des «Kriegs gegen den Terror» und Israel zum Frontstaat gegen die «weltweite islamistische Terrorbewegung» zu deklarieren. Wirtschaftspolitisch schlug die Regierung einen neoliberalen Kurs ein. Ein großer Teil der Funktionen, die zuvor das Militär ausgeübt hatte, wurde nun privatisiert – so der Betrieb der Checkpoints und der militärische Schutz der israelischen Siedlungen. Die israelischen Siedler wurden aus dem Gazastreifen abgezogen und der Bau der Mauer begonnen.

Diese Umschichtung minderte nicht die staatlichen Kosten für die Besatzung, dafür bot sie privaten Sicherheitsfirmen zahlreiche Möglichkeiten, gute Geschäfte zu machen. In den letzten zehn Jahren ist eine Sicherheitsindustrie entstanden, die vorwiegend Überwachungsapparate, hochtechnisierte Waffen, die militarisierte Kontrolle spezifischer, eng umgrenzter Zonen, Vorrichtungen für Datenspeicherung und biometrische Erkennung, Spezialtraining für Sicherheitspersonal u.ä. hervorbringt. Einige dieser Sicherheitsfirmen waren früher staatlich und wurden privatisiert, andere von pensionierten israelischen Offizieren gegründet.

Sie sind in der besten Position, um Regierungsaufträge zu akquirieren und ihre Waren an die israelische Armee zu verkaufen. Das verschafft ihnen eine gute Referenz für spätere Geschäftsbeziehungen ins Ausland. Auf der Basis ihrer «Erfahrungen» in Sachen Ausrüstung, Dienstleistungen und Technik für den «Kampf gegen den Terror» können sie hohe Preise verlangen.

Auf diese Weise sind die israelischen Exporte und selbst die Aktienkurse an der Börse von Tel Aviv deutlich gestiegen. Die israelische Wirtschaft ist in den letzten zehn Jahren stark gewachsen: makroökonomische Indikatoren wie Beschäftigung, Bruttoinlandsprodukt und Exporte zeigen nach oben.

Seit Mitte der 90er Jahre haben Geldströme internationaler Institutionen und Hilfsorganisationen in die besetzten Gebiete eine weitere Einkommensquelle für die israelische Wirtschaft geschaffen; sie reichen aber nicht, um die Last der Besatzung auszugleichen.

Die Kosten der Besatzung

Menschen werden mit hohen Beihilfen für die Siedler ermutigt, in die Siedlungen zu ziehen. Die Siedlerbevölkerung in der Westbank, in Ostjerusalem und zeitweise im Gazastreifen ist zwischen 1987 und heute von 100.000 auf 500.000 gestiegen. Dies ist eine Verletzung des 4.Genfer Abkommens, das den Transfer von Zivilbevölkerung in besetzte Gebiete verbietet.

Die Kosten der Besatzung können nur geschätzt werden, weil das israelische Verteidigungsministerium die Daten geheim hält und die Ausgaben für die Siedler in zahllosen Nebenhaushalten versteckt werden. Inländische Kritik an den hohen Zahlungen an die Siedler und ausländische Kritik an den Menschenrechtsverletzungen sollen klein gehalten werden.

Shir Hever schätzt die Gesamtkosten der Besatzung folgendermaßen:

Zeitraum 1970–2008

(in Preisen von 2007 in NIS):

Einkünfte aus der Besatzung (nach Abzug der Transferzahlungen an die Palästinensische Autonomiebehörde für die Jahre 1996–2008): 39,64 Mrd.

Subventionen an Siedler:104,46 Mrd.

Sicherheitskosten: 316,21 Mrd.

Gesamt: 381,02 Mrd.

Nicht eingerechnet sind hier die Geldflüsse an die israelische Wirtschaft aus der internationalen humanitären und Entwicklungshilfe an die besetzten Gebiete (sie schwankte in den letzten zehn Jahren zwischen jährlich 900 und 1600 Mio. Dollar) und die US-Militärhilfe für Israel (konstant 3 Mrd. Dollar pro Jahr).

Die Zahlen zeigen: Die Ausgaben für die Sicherheit sind mehr als dreimal so hoch wie die Unterstützungszahlungen an die Siedler. Das bedeutet, dass der Hauptgrund für die hohen Besatzungskosten der palästinensische Widerstand ist. Obwohl sie Israel militärisch nichts entgegensetzen können und obwohl ihre Wirtschaft von Israel zerstört worden ist, machen die Palästinenser die Besatzung zu einem für Israel immer schwierigeren Unternehmen.

Diese Tatsache kann nicht überschätzt werden. Die Tatsache, dass der bewaffnete Widerstand der Palästinenser sich in einer Erosion der israelischen Wirtschaft niederschlägt, mag an sich kein Grund sein für die Rechtfertigung von Gewalt. Sie zeigt aber, dass die Effektivität des bewaffneten Kampfs sich nicht auf das militärische Feld beschränkt (wo die Palästinenser immer verlieren), sondern auch für die Ökonomie relevant ist.

Hier ist die Frage nicht, wer der Gegenseite den größten Schaden beibringt, sondern wer am längsten durchhält.

Teure Siedler

Die addierten Gesamtkosten für die Besatzung liegen noch immer etwas unter der Summe der Hilfe, die Israel seit 1973 von den USA erhalten hat. Seit 1999 übersteigen die Besatzungskosten allerdings die jährliche US-Hilfe, inzwischen um das Doppelte. Denn die Kosten der Besatzung sind nicht gleichbleibend, sie steigen von Jahr zu Jahr. Für 2008 werden sie mit 26,3 Mrd. NIS beziffert.

Die direkten Besatzungsausgaben machen derzeit 8,72% des israelischen Haushalts aus. Die Regierung gibt also für jeden israelischen Staatsbürger im Durchschnitt 40,89 NIS aus, aber 93,1 NIS für jeden Siedler, mehr als das Doppelte.

In den Jahren zwischen 2003 und 2008 ist der israelische Haushalt um jährlich durchschnittlich 2,3% gestiegen, die Zahl der Siedler hingegen nimmt seit 1991 jährlich um 7,13% zu. Dieser Trend kann nicht anhalten, sonst müssten im Jahr 2038 über die Hälfte des israelischen Haushalts für die Aufrechterhaltung der Besatzung aufgewendet werden; das kann kein entwickeltes Land tragen. Der politische Druck, diesen Trend zu stoppen, wird daher steigen. "Ob sich dies Israel auch überzeugen wird, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen, ob es seine Kontrollmechanismen deswegen umstellt und Wege findet, die Kosten zu senken, ob es seine Regierung zum Völkermord anstachelt oder der Staat Israel darüber kollabiert – das wird die Zeit zeigen."

Als Israel im September 2005 die jüdischen Siedlungen im Gazastreifen evakuierte, wurden die 8000 Siedler abgefunden: für das verlorene Land, für den Verlust des Arbeitsplatzes oder die Aufgabe ihres Geschäfts, für die Unbilden der Umsiedlung; jeder erhielt im Durchschnitt 200.000 Euro. Sollte Israel sich entschließen, die illegalen Siedlungen in der Westbank aufzulösen, wo 2008 471000 Siedler lebten, und sollten diese dieselbe Abfindung durchsetzen können, müsste Israel 92,5 Mrd. Euro zahlen, eineinhalb Mal soviel wie der gesamte Jahreshaushalt. Wenn die Siedler aber nicht evakuiert werden und die Besatzungskosten weiter steigen, könnte dies für Israel am Ende noch teurer kommen.

Die israelische Regierung könnte auch einen Kredit in dieser Höhe aufnehmen, die Siedler damit abfinden und an Stelle der jährlichen Zuschüsse an die Siedler die Sollzinsen zahlen. Sie spricht die Kosten der Besatzung aber nicht an und auch in den Medien werden sie kaum diskutiert. Die Siedler wiederum werden immer militanter und bereiter, Waffengewalt auch gegen israelische Soldaten einzusetzen. Die Vorstellung, dass Israel zu den Grenzen von 1967 zurückkehren soll, ist für die meisten Israelis noch inakzeptabel. Nach den Wahlen vom Februar 2009 hat Netanyahu erklärt, er sei ein Gegner der Zwei-Staaten-Lösung.

Wer profitiert, wer bezahlt?

Das Geld, das in die Besatzung fließt, wird ungleich verteilt: In Ostjerusalem bekommen die Siedler in aller Regel nichts außer billigeren Wohnungen, und in den entlegeneren und gefährlicheren Gebieten der Westbank, die relativ weit von den Städten entfernt sind, wiegt es auch nicht immer die Bürden des Alltags auf. Am stärksten profitieren Rüstungs- und Sicherheitsunternehmen sowie Ölkonzerne. Nicht nur israelische, auch ausländische Konzerne und Regierungen haben ein starkes Interesse an der Fortsetzung der Besatzung.

Die Kosten werden entweder direkt aus dem Haushalt oder aus Einrichtungen wie der Zionistischen Weltorganisation oder der Staatlichen Lotterie bestritten – die israelischen Steuerzahler tragen also die Hauptlast. Daneben sind es natürlich die Palästinenser und die Steuerzahler in den USA, denn deren Geld wird seit 1973 dazu verwendet, Militärhilfe an Israel zu zahlen: Israel ist der größte Empfänger von US-Hilfe in der Welt.

Mehr und mehr schlagen sich die Kosten aber auch in der langfristigen Erosion der öffentlichen Haushalte und in der Verarmung der israelischen Gesellschaft nieder. Seit der Wende von 2001 sind die öffentliche Dienste massiv privatisiert worden – so ist der Wohnungsmarkt zum Gegenstand der Spekulation geworden und auf die Bedürfnisse der neuen Wirtschaftselite abgestellt.

Die öffentliche Bildung wird zugunsten des Ausbaus paralleler privater Bildungseinrichtungen vernachlässigt. 2007–2008 traten deshalb Schul- und Hochschullehrer in den Streik, sie forderten höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Der Niedergang des Bildungswesens ist einer der Gründe, warum israelische Akademiker Israel in großer Zahl verlassen. Das Schulsystem ist darüber hinaus diskriminierend gegenüber Nichtjuden (insbesondere in Ostjerusalem), aber auch gegenüber Juden nichteuropäischer Herkunft. Den meisten Politikern gilt Schule als Transmissionsriemen für zionistische Ideologie, Sicherheitsdenken, Nationalstolz und als Rekrutierungsfeld für den Militärdienst.

 

Aus: Shir Hever, The Political Economy of Israels Occupation, London: Pluto Press, 2010. Zusammengestellt von Angela Klein.

 

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