von Guido Strack
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 21.7.2011 entschieden: Die fristlose Kündigung von Brigitte Heinisch, Berliner Altenpflegerin und Whistleblower-Preisträgerin 2007, sowie die Weigerung der deutschen Gerichte, diese Kündigung aufzuheben, verstößt gegen das Recht auf Meinungsfreiheit, das in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert wird.
Anfang 2005 war Heinisch von ihrem Arbeitgeber, dem landeseigenen Berliner Konzern Vivantes, fristlos gekündigt worden, weil sie im Dezember 2004 eine Strafanzeige gegen Vivantes wegen des Verdachts auf Betrug und weitere Straftaten gestellt hatte. Hintergrund war die Besorgnis von Heinisch um erhebliche Personal- und Qualitätsmängel in der Pflege. Hierauf hatte sie, teilweise auch gemeinsam mit Kolleginnen, zuvor schon mehrfach intern hingewiesen. Auch der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) hatte mehrfach Pflegemängel festgestellt. Aber weder Heinischs Hinweise noch die Feststellungen des MDK hatten zu einer Verbesserung der Situation geführt.
Es ist begrüßenswert, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Falle Brigitte Heimisch das öffentliche Interesse an der Beseitigung – und wenn dafür nötig auch am Bekanntwerden – von Missständen in der Altenpflege und das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit über die Interessen des Arbeitgebers und angebliche Loyalitätspflichten des Arbeitnehmers gestellt hat. Damit hat das Gericht aber keineswegs potenziellen Whistleblowern einen Freibrief ausgestellt, Missstände am Arbeitsplatz ohne weiteres öffentlich zu machen. Selbst die Frage, ob nicht wenigstens der Gang zur Staatsanwaltschaft oder zu anderen Behörden in jedem Falle zulässig ist, ist nicht generell beantwortet.
Nach wie vor setzen sich Arbeitnehmer in solchen Fällen dem Risiko einer fristlosen Kündigung oder anderen Repressalien aus. Der EGMR hat letztlich genau jenes Bündel von Kriterien für seine Einzelfall-Abwägung im Fall Heinisch herangezogen, wie die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auch.
Danach gilt der Grundsatz, dass vor einem Gang zu Behörden oder in die Öffentlichkeit zunächst versucht werden muss, innerbetrieblich Abhilfe zu schaffen – außer wenn dies im Einzelfall nicht zumutbar ist. Wann Unzumutbarkeit vorliegt – etwa bei schweren Straftaten des Arbeitgebers oder wenn keine Abhilfe zu erwarten ist – bleibt aber ebenso unklar wie die Frage, wie lange auf eine interne Abhilfe gewartet werden muss, welches Ausmaß Missstände haben müssen, wie gravierend die Verletzung öffentlicher Interessen sein muss, und ob und inwieweit Motive des Whistleblowers für die Zulässigkeit seines Whistleblowing bedeutsam sind.
All diese Fragen stellen sich selbst dann, wenn die Kündigung – wie im Fall Heinisch – explizit mit Whistleblowing begründet wird. Ist dies nicht der Fall, muss der Whistleblower zusätzlich nachweisen, dass seine Kündigung, Versetzung oder das Mobbing, das er behauptet, auch wirklich als Sanktion für sein Whistleblowing erfolgte.
Die Folge dieser unklaren Rechtslage: Statt bei kritischen Situationen genauer hinzuschauen und wo nötig Alarm zu schlagen, schauen Beschäftigte weg und schweigen. Missstände, z.B. schlechte Patientenversorgung, ungesunde Lebensmittel oder Medikamente, unsichere technische Geräte, Mobbing, Missbrauch, Verschwendung und Korruption können fortbestehen und weiter gedeihen. Das Aufklärungs- und Abschreckungspotenzial des Frühwarnsystems Whistleblowing bleibt weitgehend ungenutzt.
Was hier nötig wäre, ist ein Kulturwandel. Nicht derjenige, der auf den Dreck hinweist, ist der Nestbeschmutzer, sondern derjenige, der ihn verursacht hat. Loyalität kann nicht erzwungen, sondern muss verdient werden. Geheimhaltungspflichten müssen dort ihre Grenze finden, wo es um die Vertuschung von illegalen oder illegitimen Sachverhalten und Handlungen geht und wo sie dem Demokratieprinzip eklatant zuwider laufen.
Hier ist der Gesetzgeber gefordert, ein klares Zeichen zu setzen. Das Whistleblower-Netzwerk hat dazu schon im Mai einen konkreten Gesetzesvorschlag vorgelegt. Wichtige Elemente sind dabei: ein Wahlrecht zwischen internem und behördlichem Whistleblowing, das Recht auf eine angemessene unabhängige Untersuchung, ein an bestimmte Voraussetzungen geknüpftes Recht zu öffentlichem Whistleblowing, ein mit Schadensersatzansprüchen und Beweiserleichterung gekoppeltes Verbot von Repressalien gegen Whistleblower und ein Bundesbeauftragter als Ansprechpartner und zur Förderung von Whistleblowing. Dabei geht es nicht um Whistleblowerschutz als Selbstzweck, sondern darum, öffentliche Interessen besser zu schützen.
Grüne und SPD haben angekündigt, noch in diesem Jahr eigene Gesetzentwürfe zum Thema Whistleblowing vorzulegen. Sprecher beider Parteien haben das EGMR-Urteil begrüßt. Über mögliche Inhalte ihrer Gesetzesentwürfe ist allerdings bisher kaum etwas bekannt geworden. Demgegenüber hat die Linksfraktion bereits Anfang Juli einen Antrag in den Bundestag eingebracht, der die Bundesregierung zur Vorlage eines Gesetzesentwurfs auffordert und zahlreiche sehr sinnvolle, inhaltliche Anforderungen formuliert.
Ob es in dieser Legislaturperiode noch zu einer umfassenden gesetzlichen Regelung kommen wird, darf jedoch bezweifelt werden. Zwar gibt es sowohl seitens der Parlamentarischen Versammlung des Europarats als auch von Seiten der G20-Staaten Vorgaben dafür, doch noch im Januar haben führende Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Whistleblower als «Denunzianten» und «Blockwarte» verunglimpft. Auch die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, der es bereits 2008 gelang, einen ersten Einstieg in Whistleblowerschutz für Arbeitnehmer zu verhindern, lehnt ein solches Gesetz rundweg ab.
Guido Strack ist Mitglied des Whistleblower-Netzwerks (www.whistleblower-netzwerk.de).
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