Der nachstehende Auszug bildet den zweiten Teil eines langen Interviews, das Tom Mills von der Online-Zeitung New Left Project mit Gilbert Achcar, Dozent an der School of Oriental and African Studies in London, geführt hat.
Das Grundmotiv für die militärische Intervention der NATO in Libyen war die Aufrechterhaltung des Ölflusses, haben Sie einmal gesagt. Nachdem dieser nun gesichert ist, was sind jetzt die Ziele der NATO? Wie stark werden Frankreich, Großbritannien und die USA Einfluss auf die Zukunft Libyens nehmen können?
Ich habe nicht gesagt, der Grund für die Intervention sei die Aufrechterhaltung des Ölflusses gewesen. Gaddafi hatte Ölverträge mit allen westlichen Staaten abgeschlossen, vor allem mit Italien, aber auch mit Deutschland, Großbritannien, Spanien, er hätte ihnen auch weiter Öl verkauft. Es gab kein antiwestliches Regime. Der Westen hat seine Sanktionen gegen Gaddafi bereits 2004 aufgehoben, nachdem dieser George Bush und Tony Blair versichert hatte, er sei von ihnen so beeindruckt, dass er seine Massenvernichtungswaffen loswerden wolle. Darüber waren sie damals sehr froh, weil sie hofften, das werde ihre Position in ihrer Kampagne gegen die vermeintlichen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins stärken, für die sie keine Beweise hatten. Damals suchten die Führer des Westens einer nach dem anderen Gaddafi in seinem Zelt auf – Falken und Neocons ebenso wie Theoretiker des Dritten Wegs wie Anthony Giddens. Vor 2011 gab es keinen Druck im Westen zu einem Regimewechsel in Libyen.
Als der arabische Aufruhr begann und die Massenbewegungen in Tunesien und Ägypten die prowestlichen Diktatoren verjagten, fühlten sich die Westmächte gedrängt zu versichern, sie stünden auf der Seite der Massenbewegung für Demokratie. Nicolas Sarkozy musste seine schändliche Unterstützung für die Regierung Ben Ali fallen lassen, und selbst Washington musste öffentlich Unterstützung für die Demokratiebewegung bekunden, obwohl Mubarak ihr engster Verbündeter in der Region war.
Gaddafi war den Westmächten sicher nicht teurer als Mubarak – mit Ausnahme von Italien. Als Gaddafi deshalb mit brutaler Repression reagierte und umbrachte, was er Ratten und Geschmeiß nannte, konnten die westlichen Regierungschefs sich nicht blind stellen, zumal sie die Bevölkerung von Bengasi direkt um Hilfe und Intervention bat – wie auch die Regierungen der Arabischen Liga, die deshalb noch vor der Resolution des UN-Sicherheitsrats die Einrichtung einer Flugverbotszone forderte. Natürlich hat Öl dabei dennoch die zentrale Rolle gespielt…
Die Fehler aus dem Irak nicht wiederholen
Als die westliche Militärintervention jedoch einsetzte, zeigte sich Gaddafi störrischer und sein Regime widerstandskräftiger als erwartet. Es wurde nötig ihn zu beseitigen. In erster Linie wollten die westlichen Regierungen in Libyen eine stabile Regierung, die in der Lage wäre, die Geschäfte mit den westlichen Unternehmen und Staaten fortzusetzen.
Deshalb war die größte Sorge der NATO, alles zu tun, damit das «Beispiel Irak» sich nicht wiederhole. Gemeint war die Auflösung der Strukturen des Baath-Regimes, die die US-Truppen durchsetzten, als sie in den Irak einmarschierten. Alle wichtigen Strukturen des Baath-Regimes, inklusive der Armee, des Repressionsapparats und der Regierungspartei, wurden damals aufgelöst. In den westlichen Hauptstädten wurde dies später als ein fataler Fehler erkannt; die Besetzung des Irak mündete in ein Desaster für die USA und Großbritannien. Daraus zogen diese den Schluss, in Libyen müsse es einen Übergang geben, bei dem der Kern der Institutionen des alten Regimes erhalten bliebe.
Das ist der wesentliche Grund, warum die NATO ihre Intervention in Libyen mit relativ niedriger Intensität fuhr und sich weigerte, die Aufständischen mit Waffen zu versorgen, gleichzeitig aber intensive Verhandlungen mit dem Gaddafi-Regime führte. immer wieder sickerten Presseberichte über direkte und indirekte Verhandlungen, z.B. mit Gaddafis Sohn Saïf al-Islam, durch.
Die NATO wollte mit den Vertretern des Regimes einen Deal erreichen, den die Aufständischen akzeptieren sollten. Unter ihrem Druck gab es auch Kontakte zwischen dem Nationalen Übergangsrat und dem Gaddafi-Regime, aber all diese Verhandlungen führten nirgendwo hin. Das größte Hindernis dafür war Gaddafi selbst. Es war ausgeschlossen, dass die Aufständischen ihn weiter als Staatsoberhaupt Libyens akzeptieren konnten, und er selbst lehnte die Aufgabe seiner Macht ab. Auch später wechselte die NATO immer wieder zwischen Bombenkrieg und Verhandlungen hin und her, in der Hoffnung, eine Veränderung der militärischen Lage werde Gaddafis Getreue ermutigen, ihn beiseite zu schieben und einen Deal mit der NATO zu unterzeichnen, die ihn dann den Rebellen aufgenötigt hätte.
Die NATO wollte die Rolle des Schiedsrichters einnehmen. London hat bei der Ausarbeitung dieses Plans eine zentrale Rolle gespielt. Nur wenige Tage vor der Befreiung von Tripolis schrieb die Financial Times, die Rebellen sollten die Stadt nicht einnehmen, es würde dann ein Blutbad geben, es wäre besser, sie würden nur Druck ausüben, dass Gaddafi geht. Die Londoner Wirtschaftszeitung The Economist hatte vorher dasselbe geschrieben. Das sind die beiden Sprachrohre der herrschenden Klasse in Großbritannien.
So war der Plan der NATO. Doch der Plan scheiterte, weil das Regime in Tripolis plötzlich zusammenbrach. Die Vorstellung der NATO, es könnte der Repressionsapparat eines Regimes aufrechterhalten werden, das über Jahrzehnte als Privatunternehmen und Privatmiliz des Herrscherhauses geführt wurde, war offensichtlich Wunschdenken. Das funktioniert nicht, wenn die Bevölkerung bewaffnet ist und die Mehrheit der bewaffneten Aufständischen aus Zivilisten besteht, die nur aus Anlass des Aufstands zu den Waffen gegriffen haben. Das ist eine genuine Rebellion und Revolution des Volkes. Viele von ihnen würden eine Fortsetzung der Strukturen des Gaddafi-Regimes nicht dulden.
Einige Beobachter haben zu Bedenken gegeben, auch die Rebellen seien von der NATO vereinnahmt worden. Sie verweisen darauf, dass ehemalige Angehörige des Regimes an der Führung des Aufstands beteiligt waren.
Natürlich gibt es in der Führung des Aufstands frühere Mitglieder des Regimes. Was erwarten Sie nach 40 Jahren eines totalitären Regimes? Wundert es Sie, dass es Menschen mit Positionen im Staatsapparat, die in einem Land, in dem der Staat allgegenwärtig war, kaum eine andere Wahl hatten als sich zu arrangieren, dennoch der Diktatur und dem verrückten Diktator grollten? Wir wissen aus Interviews mit engen Mitarbeitern Gaddafis, dass viele sich von seinem lächerlich aufgetakelten Verhalten abgestoßen fühlten. Deshalb haben ihm so viele den Rücken gekehrt, als die Bewegung begann – mit Ausnahme derer, die ihn uneingeschränkt bewunderten oder von seinen Gaben profitierten.
Wenn dies ein Grund sein sollte, die libysche Revolution abzulehnen, was sollen wir dann zu Ägypten sagen? Dort wurde die Armee als Unterstützerin der Proteste gefeiert, weil sie sich geweigert hat, sie gewaltsam zu unterdrücken, und sich schließlich von Mubarak getrennt hat. Was ist heute in Ägypten? Im wesentlichen ist das alte Regime noch intakt. Das heißt nicht, es sei nichts Wichtiges passiert. Der Aufstand war sehr wichtig, aber der revolutionären Prozess ist noch nicht am Ende, es finden heftige politische Kämpfe statt.
Eine doppelte Illusion
Auch in Libyen ist mit dem Sturz Gaddafis das Ende der Geschichte nicht erreicht. Der Kampf wird fortgesetzt, hoffentlich eher mit politischen als mit militärischen Mitteln. Einer der zentralen Konfliktpunkte wird dabei der Charakter des neuen Staates und die Radikalität des Bruchs mit den alten Strukturen sein.
Die Kreise um den Nationalen Übergangsrat umfassen auch ein paar Vorkämpfer für neoliberale Reformen – man findet sie eher im Exekutivkomitee, also im Kabinett, als im Rat selbst. Einer von ihnen, der aus dem Exil zurückgekehrt ist, ist Khalifa Haftar, ein CIA-Mann. Solche Leute gibt es da. Aber soweit ich weiß, spielen sie unter den Rebellen kaum eine Rolle, viele sind ihnen übel gesonnen und gehen auf Distanz zu ihnen. Während der Übergangsrat sich in Dankesbezeugungen gegen die NATO überschlägt, wissen wir aus vielen Berichten, dass unter den Rebellen nicht Dankbarkeit, sondern eher Frust darüber verbreitet ist, wie die NATO mit der Situation umgegangen ist.
Viele Libyer glauben, sie hätten die Dienste der NATO angeheuert, wie Gaddafi seine Söldner anheuerte. Sie haben um Hilfe gerufen und sie vom Westen bekommen; nun will dieser seinen Lohn und sie versichern ihm, dass er ihn bekommen wird. Sie sagen: «Wir werden mit ihnen Geschäfte machen, wie Gaddafi es auch getan hat.» Das ist eine Illusion, natürlich. Aber der Glaube, die NATO könne die Lage aus der Ferne, ohne Stiefel auf dem Boden kontrollieren, ist auch eine Illusion. Viele in der NATO wissen das und haben Pläne entwickelt, wie sie Bodentruppen schicken können.
Aus vielerlei Gründen – politischen, finanziellen und militärischen – wird es für die NATO sehr schwer sein, westliche Truppen zu schicken. Der Wichtigste ist, dass die Rebellen keine ausländischen Truppen auf libyschem Boden wollen – das war ihr Standpunkt vom ersten Tag an, als sie um Hilfe baten. Sie haben gesagt: «Wir wollen eine Flugverbotszone, aber wir wollen keine Bodentruppen.»
Doch ohne solche Truppen wird die NATO kaum ein Druckmittel in der Hand haben, wenn Gaddafi einmal weg ist. Das Druckmittel, das sie jetzt hält, beruht vor allem darauf, dass sie für die Rebellen im Krieg gegen Gaddafi unverzichtbar war. Aber wenn diese Phase vorbei ist, entfällt das Druckmittel.
Bodentruppen
Deshalb werden jetzt Pläne für eine Intervention mit Bodentruppen aus arabischen und afrikanischen Staaten unter der Führung der UNO entworfen; dafür werden Staaten ausgesucht, die eng mit dem Westen zusammenarbeiten – sowie die Türkei, die NATO-Mitglied ist. Die Türkei spielte in der Libyen-Operation der NATO eine herausragende Rolle und sie bereitet sich darauf vor, diese Rolle auch in Libyen selbst zu spielen und daraus bedeutenden wirtschaftlichen Nutzen zu ziehen.
Selbst angenommen, der Übergangsrat würde dem Plan einer Stationierung von Bodentruppen zustimmen (was derzeit sehr unwahrscheinlich ist, weil es die Gefahr eines großen Chaos nach sich zöge), würde es ihm sehr schwer fallen, dieses Vorhaben den Rebellen und all den Menschen, die für Freiheit und Selbstbestimmung gekämpft haben, zu verkaufen. Es herrscht eine große Kluft zwischen der Blaupause der NATO und den realen Verhältnissen in Libyen.
Es wäre nicht das erste Mal, dass wir eine solche Diskrepanz zwischen den imperialistischen Plänen und der Realität erleben. Denken Sie an Afghanistan, denken Sie an den Irak. Es wird auch in Libyen so sein, zumal in Abwesenheit westlicher Bodentruppen und in Anwesenheit eines genuinen Aufstands der Bevölkerung.
Die vollständige Fassung des Interviews sowie weitere Beiträge von Gilbert Achcar zum Thema Libyen sind auf www.zcommunications.org/zsearch/url/gilbertachcar zu finden.
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