Am 5.August verfassten der scheidende und der künftige Präsident der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet und Mario Draghi, einen «blauen Brief» an die Regierung Berlusconi. Er wurde am 8.August vom Corriere della Sera veröffentlicht. Die Regierung revidierte und verschärfte daraufhin unverzüglich das bereits beschlossene Sparpaket.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
der Gouverneursrat der Europäischen Zentralbank hat am 4.August die Situation auf den italienischen Märkten für Staatsanleihen angesprochen. Der Gouverneursrat ist der Meinung, dass die italienischen Behörden dringend handeln müssen, um das Vertrauen der Investoren wieder herzustellen.
Die Staats- und Regierungschefs der Länder der Eurozone beschlossen auf ihrem Gipfeltreffen am 21.Juli: «Alle Euroländer bekräftigen feierlich ihre unbeugsame Entschlossenheit, die von ihnen eingegangenen Verpflichtungen für nachhaltige Haushalte und Strukturreformen einzuhalten.» Der Gouverneursrat ist der Auffassung, dass Italien diese Entschlossenheit dringend untermauern muss.
Die italienische Regierung hat beschlossen, bis 2014 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen, und zu diesem Zweck kürzlich ein Sparpaket vorgelegt. Das sind wichtige Schritte, sie reichen aber nicht.
Derzeit halten wir folgende Maßnahmen für erforderlich:
1. Wir sehen die Notwendigkeit, spürbare Maßnahmen zu ergreifen, um Wachstum zu erzielen...
a)Eine zusammenhängende, weitreichende und glaubwürdige Reformstrategie, die die volle Liberalisierung der lokalen öffentlichen Dienste und Dienstleistungsberufe einschließt. Dies sollte vor allem durch großflächige Privatisierungen erfolgen.
b)Auch das Tarifvertragssystem muss weiter reformiert werden und Betriebsvereinbarungen zulassen, die Löhne und Arbeitsbedingungen an die besonderen Bedürfnissen der Unternehmen anpassen und gegenüber anderen Verhandlungsebenen größeres Gewicht erhalten. Das Abkommen vom 28.Juni zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden ist ein Schritt in diese Richtung.
c)Die Regeln für die Einstellung und Kündigung von abhängig Beschäftigten sollten sorgfältig überprüft werden, zugleich sollte ein System der Arbeitslosenversicherung eingerichtet und Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik ergriffen werden, die die Lenkung von Ressourcen in wettbewerbsfähigere Unternehmen und Sektoren erleichtern.
2. Die Regierung muss sofort kühne Maßnahmen ergreifen, um die öffentlichen Finanzen zu konsolidieren.
a)Zusätzliche Korrekturen im Haushalt sind nötig. Wir halten es für erforderlich, dass die italienischen Behörden die im Haushaltspaket vom Juli 2011 vorgesehenen Maßnahmen um ein Jahr vorzieht. Ziel sollte sein, 2011 ein geringeres Defizit als geplant zu erreichen, 2012 eine Nettokreditaufnahme von 1% und bis 2013 einen ausgeglichenen Haushalt – hauptsächlich auf dem Weg der Ausgabenkürzung. Es ist möglich, weitere Eingriffe in das Rentensystem vorzunehmen, die Voraussetzungen für den Bezug der Altersrente zu verschärfen und das Renteneintrittsalter der Frauen im Privatsektor rasch an das im öffentlichen Dienst anzugleichen; dies würde Einsparungen schon in 2012 ermöglichen. Die Regierung sollte auch eine spürbare Senkung der Ausgaben für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst ins Auge fassen – durch strengere Leistungskriterien und, wo nötig, durch Senkung der Löhne.
b)Eine automatische Defizit-Senkungs-Klausel sollte eingeführt werden, dergestalt, dass jede Abweichung von den Defizitzielen automatisch ausgeglichen wird durch horizontale Kürzungen bei ausgewählten Ausgaben.
c)Die Kreditaufnahme, einschließlich der Schulden aus Warenlieferungen und Ausgaben lokaler und regionaler Regierungen, muss unter strenge Aufsicht gestellt werden, gemäß den Grundsätzen der laufenden Reform der Haushaltsbeziehungen zwischen den Staaten.
In Anbetracht des Ernstes der Lage auf den Finanzmärkten halten wir es für entscheidend, dass alle in Abschnitt 1 und 2 aufgeführten Maßnahmen so bald als möglich in Form von Eilgesetzen umgesetzt werden, die vom Parlament bis Ende September 2011 ratifiziert werden sollten. Die Verschärfung der Haushaltregeln sollte auch in die Verfassung aufgenommen werden. [...]
Mario Draghi, Jean-Claude Trichet, 5.August 2011
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