Von Angela Klein
Der Wind hat sich gedreht in Deutschland: Populistische Forderungen des Stils: «Die Griechen machen uns den Euro kaputt» sind dem öffentlichen Eingeständnis aus obersten Bankerkreisen gewichen: «Unser Finanzsystem ist am Ende.»
Von seinem Posten als Präsident der Europäischen Zentralbank verabschiedete sich Jean-Claude Trichet im Oktober mit den Worten: «Wir haben eine Systemkrise.» Und auf der anderen Seite des großen Teichs lässt Hedgefondsmanager George Soros seit Monaten vernehmen: «Das gesamte Bankensystem ist insolvent.»
So etwas sagen Finanzhaie und ihr politisches Personal nicht, um die Kapitalismuskritik der Linken zu bedienen. Sie sagen das, weil sie die regierenden Politiker aufrütteln wollen, endlich angemessene Maßnahmen zu ergreifen, die einen gänzlichen Kollaps vermeiden und ihre Vermögen retten. Soros ging so weit, den Wall-Street-Besetzern seine Sympathie auszudrücken; jedes Mittel ist derzeit recht, das den Druck auf die Politik verstärkt, «die Banken endlich zu regulieren», wie sich ein Vertreter des Bankenverbands neulich im Deutschlandfunk äußerte. Ganz neue Töne sind das.
Was sie treibt, ist das Heraufziehen einer neuen weltweiten Rezession und die Befürchtung, dass diese zu einem noch größeren Bankenkrach als 2008 führen wird, weil die faulen Kredite in Billionenhöhe damals nicht verbrannt, sondern unter milliardenschweren Rettungspaketen vergraben wurden. Der ließe sich mit einem Rettungspaket nicht mehr auffangen.
Jetzt rächt sich, dass die Regierungen es vor drei Jahren (im Interesse der Kapitalanleger) versäumt haben, diese zur Kasse zu bitten. Und auch jetzt noch sind sie hin und her gerissen zwischen dem Interesse des Gesamtkapitals, das faule Fleisch wegzuschneiden, um den Kern des kapitalistischen Systems zu retten, und dem Interesse jedes einzelnen Kapitalbesitzers, sein Vermögen doch noch durchzubringen. Deshalb haben sie nicht die Kraft, «den Märkten» zu sagen, wo es lang geht und werden von ihnen getrieben.
Die Ratlosigkeit der Politik und die widerstreitenden Forderungen aus Finanzwelt und Industrie haben einen politischen Raum geöffnet für einen dritten Akteur: die Bevölkerungsmehrheiten, die bislang für die Krise bluten mussten (es sind weniger als 99%, aber doch die erdrückende Mehrheit). Die Occupy-Bewegung, die sich vor allem in den reichen Industrieländern ausbreitet, hat die Kapitalismuskritik von oben aufgenommen und wendet sie nun gegen die Verursacher der Krise.
Das ist eine sehr ermutigende Botschaft. Denn die von Finanzleuten vorgeschlagene Lösung, «den Resetknopf zu drücken und von vorn anzufangen» (Dirk Müller im Interview mit dem Handelsblatt, 18.10.2011) ist eine sehr schlechte Idee. Das letzte Mal, als der Resetknopf gedrückt wurde, war das der Zweite Weltkrieg, wurde die halbe Welt versklavt und 60 Millionen Menschen getötet. Die Verantwortlichen, wie die Deutsche Bank oder JP Morgan oder die Stahlindustriellen und Rüstungsbarone aber konnten ihre Haut und ihr Vermögen retten – und nach dem großen Gewitter das Spiel von vorn anfangen. Das dürfen wir nicht noch einmal zulassen; im Zeitalter der Atombombe würde es schwerlich einen «Neuanfang» geben.
Wolfram Siener, der erste Sprecher der Occupy-Frankfurt-Bewegung (siehe S.2), hat völlig recht: Es geht nicht um Zahlen, nicht um einzelne Korrekturen. Es geht um die Frage: Wie wollen wir leben? Wie kommen wir aus einem Wirtschaftsmodell raus, das um den Preis der vollständigen Zerstörung von Mensch und Umwelt immer weiter wachsen muss? Immer mehr Reichtum akkumulieren muss? Das Diktum der bürgerlichen Ökonomie: «Die Verfolgung des persönlichen Reichtums ist die Voraussetzung für den gesellschaftlichen Reichtum», ist für einen großen Teil der Menschheit längst zum Albtraum geworden. Der Unterschied ist nur, dass er jetzt auch die Mittelschichten in den alten Industrieländern drückt.
Liest man die American People’s New Economic Charter, eine Art Manifest der Occupy-Wall-Street-Bewegung (http://tapnec.wikispaces.com), so findet man darin das Ganze: nicht eine enggeführte Kritik am Funktionieren der Wall Street, sondern die Kritik an der gesamten amerikanischen Weltordnung, angefangen von den Kriegen in Afghanistan und Irak bis zur Klimakrise und der Innenpolitik. Die vielen Teilkrisen, die wir in den letzten Jahren erleben – Nahrungsmittelkrise, Klimakrise, Arbeits- und Obdachlosigkeit, Schuldenkrise, die Krise der Sozialsysteme, die Zerrüttung des gesellschaftlichen Zusammenhalts – stehen nicht jede für sich, sondern sind alle Äußerungen der einen Krise eines Weltwirtschaftssystems, das nur ein Ziel kennt: das Wachstum von Gewinn und persönlichem Reichtum. Diesen Zusammenhang wieder in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt zu haben, ist das Verdienst dieser Bewegung.
Natürlich muss man das Ganze jeweils an einem Konkreten, also einem Teil, festmachen. Und es ist richtig, dass die Occupy-Bewegung dafür die Banken nehmen. Sie verkörpern wie keine andere Instanz das Streben nach Geld um des Geldes willen. Zitieren wir dazu noch einmal Dirk Müller, ein Börsenmakler, der als «Mister Dax» bekannt wurde:
«Unser Finanzsystem ist so beschaffen, dass es alle paar Jahrzehnte neu gestartet werden muss. Der grundlegende Fehler ist folgender: Allem Geld, das im Umlauf ist, steht auf der anderen Seite Kredit gegenüber ... Das Problem ist nur: Über die Jahrzehnte sammelt sich das Geld bei immer weniger Menschen an, während die Masse immer weniger davon hat ... Die privaten Haushalte in Deutschland haben fünf Billionen Euro an Vermögen. Aber das Geld ist sehr ungleich verteilt. Die Hälfte der Bevölkerung hat davon nur vier Prozent. Und die obersten zehn Prozent besitzen fast zwei Drittel dieses Vermögens.»
Die Ungleichverteilung des Reichtums hat zu einer in der Weltgeschichte nie dagewesenen Geldakkumulation geführt – das Volumen der Kredite ist zweimal so groß wie das Weltsozialprodukt, der Derivatehandel aber macht das Zehnfache vom Weltsozialprodukt aus! Mit soviel Geld kann jeder mittlere Staat gesprengt werden – und tatsächlich liegt ein Kern des derzeitigen Europroblems darin, dass die Summen, die aufgebracht werden müssen, um das Finanzsystem zu stabilisieren, zu groß sind, als dass sie von einem einzelnen Mitgliedstaat aufgebracht werden könnten, die Europäische Union aber primär auf dem Wettbewerb zwischen ihren Staaten aufgebaut ist, nicht auf deren Kooperation, das Finden einer europäischen Antwort deshalb zu einem mühsamen Geschäft mit ungewissem Ausgang geworden ist. «Die Hauptkrise des Euro ist eine politische, keine wirtschaftliche», geben denn auch Ökonomen zu.
Diesen Sumpf auszutrocknen und den Reichtum wieder von oben nach unten zu verteilen ist deshalb der wichtigste Hebel zur Lösung der Systemkrise. Das ist aber nicht etwas, was sich friedlich-schiedlich mit einer Finanztransaktionssteuer oder einer europäischen Vermögensteuer bewerkstelligen ließe. Das ist der Kern des Klassenkampfs. Da geht es nicht nur um die Menge an Geld, das die da oben und die da unten zur Verfügung haben, da steht auch die Art und Weise, wie die da oben ihr Kapital akkumulieren konnten, auf dem Prüfstand: durch die private Aneignung, oft genug den Raub, von Ressourcen, die der Mehrheit der Bevölkerung keine andere Wahl lässt, als ihre Arbeitskraft zu welchen Bedingungen auch immer zu verkaufen.
Umverteilung von Reichtum beinhaltet auch die Wiederaneignung von Vermögenswerten, die in öffentliche Hand und unter öffentliche Kontrolle gehören: das Kreditwesen zuallererst, weil es die Schmiermittel für eine funktionierende Wirtschaft zur Verfügung stellen soll; aber auch alle Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge (einschließlich des Gesundheits- und des Bildungswesens), die öffentliche Infrastruktur (Verkehr, Wohnungsbau, Energie- und Wasserversorgung), die Rückkehr zu Formen der Allmende im landwirtschaftlichen Bereich und die Förderung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft u.ä. Sie beinhaltet u.a. so etwas wie die Zerschlagung der Deutschen Bank, die Abschaffung des Investmentbanking und die Überführung der verbleibenden privaten Geschäftsbanken in eine Institution öffentlichen Rechts, deren Kontrollmechanismen von Grund auf neu geregelt werden müssen.
Umverteilung von Reichtum heißt natürlich auch, dass dem großen Run auf die Privatisierung von Rohstoffen in den Ländern des Südens ein Riegel vorgeschoben werden muss. Auch diese Geschäfte werden vorzugsweise von Banken vermittelt, die Deutsche ganz vorne weg.
Wir dürfen die Finanzkrise nicht als eine Teilkrise des Systems verstehen, sondern als Brennglas, in dem sich alle Teilkrisen bündeln. Gefordert ist eine Antwort auf das Ganze, nicht mehr nur Teilkorrekturen. Die Kapitalbesitzer haben die Frage nach der Behebung der Systemkrise auf den Weg gebracht; die Linke ist gefordert, ihre eigenen Antworten zu geben.
Der Kapitalismus lässt sich nicht mit einem Aufstand, auch nicht mit einer Platzbesetzung beseitigen (die Besetzung des Tahrir-Platzes hat nicht mal die ägyptische Militärdiktatur beseitigt). Wir werden auch nicht monatelang einen Platz besetzt halten können, selbst den Montagsdemos gegen die Hartzgesetze sind irgendwann die Puste ausgegangen. Das Problem, vor dem wir stehen, ist ein politisches, nicht eins der Aktionsform: Wir brauchen eine Perspektive, auf die wir hinarbeiten wollen. Wie soll die Alternative zum Kapitalismus aussehen?
Viele der Teilkämpfe, die wir jetzt führen – ob gegen Stuttgart 21 oder für die Rekommunalisierung der Wasser- und Stromversorgung – enthalten bereits Bausteine für eine solche Alternative und Vorstellungen von einem anderen Leben. Etwas Neues wäre es, wenn wir all diese Kämpfe als zusammen gehörende Bestandteile eines gemeinsamen Kampfes für eine andere Gesellschaft begreifen würden. Dann würden in unseren Teilkämpfen auch Argumentationen und Forderungen auftauchen, die jeweils über sie hinausgehen und sie in den Rahmen des Kampfs für eine andere Gesellschaft stellen. Wir würden darauf hinwirken, dass die Akteure dieser Teilbewegungen keine spanische Wand mehr zwischen, sagen wir, der Blockade der Castortransporte und den Lohnforderungen in einer Tarifrunde sehen, sondern verstehen, dass und wie beides zusammen gehört. Der gemeinsame Ausgangspunkt ist dabei immer die Finanzkrise: der zugespitzteste Ausdruck der Systemkrise des Kapitalismus.
Finanzleute haben ein feines Gespür für die Dringlichkeit der Lösung der Systemfrage. Hören wir nochmal besagten Dirk Müller: «Wir sind in der Endphase. Es wird – wie alle paar Jahrzehnte – zu dem kommen, was ich als ‹Reset› bezeichne. Das kann innerhalb der nächsten zwei, drei Jahre geschehen. Es kann sein, dass wir noch zehn Jahre so weiter machen...»
Die Linke ist noch weit davon entfernt, sich auf diesen Zeithorizont einzulassen. Ihn ernst zu nehmen, heißt aber: Die Forderung nach einer Neuausrichtung des Bankwesens unter öffentlicher Kontrolle ist eine Sofortforderung, nichts, wofür wir noch umständlich lange Brücken bauen können. Es gibt auch Brücken, die im Nirgendwo landen. Sie ist die zentrale Voraussetzung für jeden Versuch, einen anderen Entwicklungspfad, eine andere Form des Wirtschaftens einzuschlagen, weil die enormen Geldsummen, die jetzt zum Zusammenbruch ganzer Staaten führen, dann unschädlich gemacht und teilweise dafür benutzt werden können, eine sozial und ökologisch tragbare Produktionsweise auf den Weg zu bringen.
Last, but not least: Die Linke muss auf die politische Krise der EU eine Antwort geben und zwar eine europäische. Bisher ist es die Finanzwelt, die auf «mehr Europa» drängt. Die Gestalt, die deren Europa annimmt, ist ein zunehmend diktatorisches Auftreten der Europäischen Zentralbank (siehe S.15), unterfüttert durch die Europäisierung polizeilicher und paramilitärischer Gewalt (etwa in der Form der Europäischen Gendarmerieeinheit, Eurogendfor). Die populistische Rechte in den Gläubigerstaaten antwortet darauf mit chauvinistischen Kampagnen, die getrieben sind vom Egoismus der (noch) Bessergestellten, die Habenichtse abzustoßen und sich in einen vermeintlich sicheren Hafen zu flüchten.
Linke, die diesen Namen verdienen, sind aber internationalistisch. Doch die Sorte von Internationalismus, die uns hier abverlangt wird, hat mit den alten Konzepten von internationaler Solidarität wenig zu tun. Zugespitzt gesagt: Es kommt nicht darauf an, dass die deutsche Linke die griechische Bevölkerung in ihrem Kampf gegen die Troika wie auch immer «unterstützt»; das soll sie natürlich tun, das ist richtig und wichtig. Es kommt darauf an, dass die Linke sich europaweit zusammenschließt zum gemeinsamen Kampf für die Teilenteignung der Vermögenden und die Vergesellschaftung des Kreditwesens.
Denn ihr Widerpart in jedem Land sind nicht mehr nur die eigene Regierung und die eigenen Kapitalanleger. Ihr Widerpart sind mittlerweile auch europäische Institutionen, die sind ein zusätzlicher Akteur. Ob ein Land pleite macht oder nicht, entscheidet sich heute in Brüssel oder in Frankfurt, nicht in Athen oder Berlin.
Die zweite Sofortforderung, die ansteht, ist die Aufkündigung des Vertragswerks von Lissabon und die Einleitung einer Verständigung der europäischen Linken über eine solidarische und demokratische Alternative für Europa. Sie muss ihre Vorstellungen konkretisieren, wie ihrer Meinung nach eine Angleichung der Lebensverhältnisse nach oben bewerkstelligt werden kann, so dass die wirtschaftlichen Ungleichgewichte ausgeglichen und nicht vertieft werden. Und sie muss endlich europäische Handlungsfähigkeit erringen – z.B. um so zentrale Teilforderungen wie die nach einem europäischen Mindestlohn durchzusetzen.
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