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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2011
Griechenland am Rande des Ausnahmezustands

von Aris Leonas
In Griechenland gibt es Anzeichen dafür, dass das Land vor gewaltigen Veränderungen steht.
Der Verfall grundlegender Funktionen des Staates und die weit verbreitete Gewissheit, dass die Schulden Griechenlands nicht in den Griff zu bekommen sind, liefern ein Bild politischer Instabilität und Krise, das allem Anschein nach eine allgemeine politische Krise in den übrigen Ländern Südeuropas und schließlich auch im Herzen der Eurozone ankündigt. Darauf deuten die zunehmenden Spannungen durch die Finanzkrise und die Uneinigkeit zwischen den Regierungen der Eurozone hin.
Es gibt Gerüchte, wahr oder falsch, über eine mögliche bevorstehende Landung von Einheiten der Europäischen Gendarmerie (Eurogendfor) in Griechenland.
Einerseits ist der Grad an politischer Aktivität und Mobilisierung in breiten Teilen der Gesellschaft unglaublich hoch. Der Verlauf der Bewegungen war bisher folgender: breite Studentenmobilisierungen und Aufstände 2006–2007 vor der amtlichen Verkündung der griechischen Schuldenkrise; wochenlange Aufstände von Jugendlichen im Dezember 2008 nach dem Mord an einem Teenager durch die Polizei; Massendemonstrationen; 13 Generalstreiks seit dem Deal mit dem IWF; die Bewegung der Indignados nach dem Vorbild aus Spanien; Besetzung öffentlicher Plätze und Streiks in Schlüsselindustrien wie Transport und Eisenbahn.
Andererseits konnte das Tempo immer neuer Sparpakete und massiver Privatisierungen dadurch nicht gestoppt oder auch nur aufgehalten werden. Die Repression aber hat zugenommen. Die Proteste treffen auf extreme Polizeigewalt, zunehmend werden Streiks für illegal erklärt.
Die Menschen äußern deshalb ein tiefes Gefühl von Verzweiflung. Ihnen fehlt ein klare Vorstellung von möglichen Alternativen. Panik und ein allgemeines Gefühl des ökonomischen, politischen und vor allem sozialen Zusammenbruchs sind weit verbreitet. In großen Teilen der Gesellschaft wird die Reproduktion zunehmend schwierig in dem Maße, wie gesellschaftliche Funktionen zum Erliegen kommen. Nichts funktioniert mehr, weder der öffentliche Dienst noch private Geschäfte.

Das Drama der Linken
Die politischen Organisationen von den Parteien der Linken bis hin zum autonomen Spektrum stehen unter einem enormen Druck. Die Beschleunigung der Wirtschaftskrise ist in eine ernste politische Krise gemündet, und das vollständige Fehlen einer konkreten Alternative ist offensichtlich. Auf der Linken beginnen einige, über die Notwendigkeit einer linke Regierungsbildung zu sprechen, die aus einer breiten Koalition linker Parteien und kleinerer Gruppierungen bestünde. Doch waren sie bislang unfähig, diese Idee in einer Weise vorzutragen, dass sie die Massenmobilisierungen und die plötzlich und dezentralisiert auftauchenden Kämpfe hätten inspirieren können.
Das ist so trotz der Tatsache, dass die linken Parteien potenziell immer noch sehr stark sind, In Meinungsumfragen erzielen sie 26%, während die Regierungspartei PASOK nur 15% erhalten würde. Fast 50% der Wahlberechtigten haben erklärt, dass sie künftig an Wahlen nicht mehr teilnehmen werden.
Das Spektrum der linken Parteien umfasst: SYRIZA, ein linkes Bündnis, das nach dem Jahrzehnt der Sozialforen entstanden ist; die KKE, eine traditionell orientierte KP mit  eigenen Gewerkschaften, die vielfach dafür kritisiert wird, dass sie sich weigert, mit dem Rest der Linken Bündnisse zu bilden; Antarsya, eine kleines Bündnis antikapitalistischer Gruppen; die Grünen, eine relativ junge Partei, die mit den europäischen Grünen verbunden ist.

Alltag und Organisation
Die Menschen stehen unter hohem Druck. Immer größere Teile der Bevölkerung können ihre Steuern nicht mehr bezahlen, ihre Schulden nicht zurück zahlen, manchmal reicht es nicht einmal für grundlegende Subsistenzmittel wie Strom oder die Kosten für Krankheit und Wohnung.
Die Erwerbslosigkeit nimmt rasch zu; im ersten Halbjahr 2011 wird sie auf durchschnittlich 25% gestiegen sein. Die Masse von Erwerbslosen und überausgebeuteten, prekär Beschäftigten ist enorm. Diese Menschen haben keine Bindungen an die traditionellen Gewerkschaften – das heißt die Gewerkschaften, die traditionell mit den beiden größten politischen Parteien liiert sind: die regierende PASOK und die oppositionelle Nea Dimokratia, die bis 2009 an der Regierung war. Erwerbslosigkeit und Prekarität treffen vor allem die jüngere Generation, sie ist nun gezwungen auszuwandern (zumeist nach Nord- und Mitteleuropa, aber auch nach Australien und Kanada). Dies gilt insbesondere für Hochqualifizierte und Akademiker.
Der Grad und die Intensität der Kämpfe haben seit dem Sommer und während der ersten Oktoberwochen zugenommen. Die griechische Version der Bewegung der Indignados, die «Aganaktismenoi», die Mitte Juli in Aufständen mündete, scheint ihren ersten Zyklus hinter sich zu haben. Sie hat hinter sich einen Raum für Interaktion zwischen verschiedenen Bewegungen und Gruppen zurückgelassen. Diese drückte sich in zahlreichen dezentralisierten und spontanen Aktivitäten wie Streiks und Besetzungen, vorwiegend im öffentlichen Sektor, aus, es gab Massendemonstrationen und Aufstände.
In dieser Zeit sind neue Komitees entstanden, die Zahl ihrer Teilnehmer hat zugenommen, und sie haben sich dem Aufruf des Allgemeinen Gewerkschaftsbunds (GSEE) und der Konföderation der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst (ADEDY) für einen 48stündigen Generalstreik am 19. und 20.Oktober angeschlossen. Sie sind sehr stabil. Sie unterscheiden sich nach Form und Ort der Kämpfe und reichen von Basisgewerkschaften in Betrieben bis zu Versammlungen, die Besetzungen organisieren, und Nachbarschaftsversammlungen, die lokale Kämpfe organisieren und sich bei Aufrufen zu Demonstrationen im Zentrum von Athen zusammenschließen.
Verschiedene neue Aktionsformen sind entstanden: die Besetzung von Ministerien und Regierungsgebäuden, die Lahmlegung staatlicher Aktivität von der kommunalen Ebene bis hin zu Finanzämtern und Gerichten, die Besetzung öffentlicher Verkehrsmittel und Eisenbahnen durch Gewerkschaften. Täglich unterbrechen kleinere Proteste zudem den alltäglichen Handel, das wirtschaftliche und soziale Leben. All das hat die Regierung von ihrem Kurs nicht abbringen können.
Die Bemühungen aber, ein breites, organisierendes Dach für all diese Bewegungen zu schaffen, haben bislang nicht zu einer neuen Organisationsform geführt. Linke Parteien, Aktivisten und Lohnabhängige kommen in diesen Kämpfen auf recht chaotische Weise zusammen. Es wird zunehmend wichtig zu erreichen, dass diese Komitees zu legitimen Brennpunkten für den Aufbau und die Verteidigung einer in den Kämpfen entstehenden Gegenmacht werden.

Regierung ohne Volk
Bis jetzt hat die Regierung versucht, jede unkontrollierbare Explosion von unten zu vermeiden. Die Repression nimmt zu. Straßenproteste treffen zunehmend auf Gewalt seitens der Polizei. Immer mehr Streiks werden für illegal erklärt, und die Regierung engagiert Privatfirmen, um Aufgaben zu erledigen, die wegen der von Streiks und Besetzungen im öffentlichen Dienst von den regulären Kräften nicht mehr ausgeführt werden können. Die Armee ist sogar aufgefordert worden, die Straßen zu reinigen, weil die Angestellten der Straßenreinigung streikten.
Die Dinge laufen nun auf einen Höhepunkt zu. Von besonderer Bedeutung ist ein langer Artikel, der am 16.Oktober von drei Ministern unterzeichnet und von Finanzminister Venizelos unterstützt wurde. Darin wird die Bevölkerung aufgerufen, der mit dem IWF vereinbarten Politik loyal zu folgen und sich hinter die schweigende Mehrheit zu scharen, während die lautstarke Minderheit die Politik des Landes lahmlegt. Das hat unglaublich antidemokratische und autoritäre Untertöne. Ein weiteres Element, das das Bild einer  Regierung vor dem Zusammenbruch vervollständigt, ist, dass sich zunehmend große Gewerkschaften und Parteimitglieder aus der regierenden PASOK zurückziehen, darunter auch ein Parlamentsabgeordneter.

Welche Lösung?
Es gibt Gerüchte darüber, was in der nächsten Zeit geschehen wird. Dazu gehört das Gerücht, dass ein neuer antidemokratischer sozialer und politischer Kompromiss unter den Mitte-Rechts-Parteien geschlossen werden soll, in Form einer Regierung der nationalen Einheit oder einer Regierung von Technokraten. Oder dass es zum Ausnahmezustand kommt, um ein noch schlimmeres Szenario zu verhindern – d.h. die Gefahr einer Revolution von unten – zu verhindern. Die Frage der politischen Macht ist auf dem Tisch, und die politische Krise wird in den kommenden Wochen in der einen oder anderen Weise gelöst werden.
Die Menschen in Europa und anderen Teilen der Welt sind aufgerufen, die Ereignisse in Griechenland sorgfältig zu beobachten und sich auf die kommenden Etappen der politischen Krise vorzubereiten, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach bald erst auf die übrigen Länder Südeuropas und dann auf den Rest der EU ausdehnen wird.
Die politische Krise in Griechenland hat nahezu zwei Jahre gebraucht, bis sie ihren Höhepunkt erreichte. Diese Zeitspanne wird wahrscheinlich in den anderen Ländern deutlich kleiner sein, weil die europäische und globale Krise sich beschleunigt. Es gilt, keine Zeit zu verlieren.        18.10.2011

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