von Wolfgang Ratzel
Es war einmal eine Zeit, die hieß Disziplinargesellschaft. Man wurde in eine Welt geboren, die darauf gerichtet war, «das Lebende in einem Bereich von Wert und Nutzen zu organisieren». Man war potenzieller Wert und Teil eines Bevölkerungswerts, der darauf wartete, zu wachsen und entfaltet zu werden. Die Disziplinierung zielte auf «die kontrollierte Einschaltung der Körper in die Produktionsapparate»* und in die Kollektivkörper der Moderne, als da sind Nation und Rasse, aber auch – nach dem Sieg der Oktoberrevolution – die Klasse. Im Ziel der Disziplinierung der Körper und Bevölkerungen zum Zwecke der Entfaltung ihrer Produktivität waren – ideologieübergreifend – alle modernen Machtapparate gleich.
Du sollst dich zu fremden Zwecken entfalten lassen!
So lautete der Imperativ der Disziplinargesellschaft, der alle Institutionen der Vergesellschaftung kommandierte: zuallererst die paternalistische (Klein-)
Familie, danach Kindergarten, Volksschule, weiterführende Schulen, Lehrwerkstätten, Universität und nicht zuletzt die Armee als Männlichkeitsmaschine. Kulminationspunkt der Zurichtungskette aber war das Fabriksystem. Erziehungsziel war ein Arbeitersubjekt, gelehrig und allzeit bereit zum fremdgesteuerten Arbeitseinsatz.
Dieses Arbeitersubjekt produzierte eingebettet in eine Betriebsorganisation, die das WAS und WIE der Produktion in Planungs- und Steuerungsbüros zentralisierte und von dort über mehrstufige Hierarchieebenen an die unmittelbaren Produzenten weitergab. Diese waren von aufwändigen Kontrollsystemen umstellt. Man produzierte als «Reaktionsmaschine» im Modus Anweisung/Ausführung. Man arbeitete komplett fremdorganisiert und fremdbestimmt in einem klar abgegrenzten Aufgabenbereich. Man funktionierte als Anhängsel einer Maschinerie, deren konzentrierter Ausdruck «das Band» war. Eigenes Engagement wurde weder erwartet, noch war es vorstellbar. Die Bandgeschwindigkeit entfaltete die Arbeitskraft bis zur oberen Grenze des Ertragbaren. Man schrie vor Freude, wenn das Band stillstand.
Das Symbol des fordistischen Zeit-Regimes war die Stechuhr. Wer zu spät kam, den stach die Stechuhr «rot» und bestrafte ihn mit Lohnabzug. Der Tag zerfiel in Lohnarbeit und Feierabend, das Jahr in Arbeitszeit und Urlaub. Die Grenzen waren klar: Hier war man «beidhändig arbeitender Arbeitsaffe» (Karlheinz Roth), dort Mensch.
Die Disziplinarmacht erzeugte ein Arbeitersubjekt, das sich in der Dauer wohl fühlte. Die Firma garantierte – so schien es – Arbeitsplatz-, Wohnungs- und Betreuungssicherheit, und zwar lebenslang und generationenübergreifend. Man war Kruppianer, arbeitete «beim Husser» oder «beim Bosch» – wie schon der Vater, so bald auch die Kinder.
Die Arbeiterfamilie fühlte sich beschützt durch große institutionelle Gebilde – Betriebsrat und Gewerkschaft. Außerhalb der Betriebstore winkte die Sicherheit der Sozialversicherungen und im äußersten Notfall das Sozialhilfesystem.
Wehe aber, die Firma «machte zu» – dann ging auch das Disziplinarsubjekt zugrunde. Mit der Firma starb ein ganzes Milieu, starben Stadtteil und Alltagsbeziehungen. «Befreit» von Lohnarbeit war man entwurzelt; man fühlte sich nutzlos und überflüssig.
Der Antipode des Arbeitersubjekts war der paternalistische Kapitalist, der noch im Bild der «sozialen Marktwirtschaft» und des «rheinischen Kapitalismus» aufscheint. Dieser Typus fühlte sich ein Stückweit mitverantwortlich für «seine» Arbeiter, und zwar im Sinne einer Führerverantwortung für seine Gefolgschaft. Man verdiente gut und war dabei ein Stück weit «sozial».
Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will!
Das disziplinierte Arbeitersubjekt war widerstandsfähig, weil es an der Entfremdung durch exzessive Arbeitsteilung litt, weil es unfrei war, weil es sicht- und fühlbar ausgebeutet wurde. Arbeit tat weh. Man streikte für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen, sabotierte das Fließband oder verwüstete die Fabrikhallen.
Die «Humanisierung der Arbeitswelt» hoffte man durch Mitbestimmung zu erreichen. Manche verfolgten eine Strategie der Selbstermächtigung durch betriebliche Selbstverwaltung.
Dieses fremdbestimmt sich entfaltende Arbeitersubjekt verstand sich bis weit in die 80er Jahre des 20.Jahrhunderts als Arbeitskraftverkäufer.
Doch kaum eine Generation später hatte sich global und in allen Produktionssphären und selbst im Bereich der Arbeitsämter ein neues Leitbild etabliert:
Das Leitbild des Arbeitskraftunternehmers
Was hatte sich geändert? Und welche Dynamik trieb diesen Paradigmenwechsel?
Der Arbeitskraftunternehmer betrachtet sich als Kapitaleigner seiner selbst. Sein Kapital ist sein «Humankapital», d.h. die Wertschöpfungskraft seines Körpers als Ganzer, die er bewirtschaftet, als ob er Unternehmer wäre. Biografieplanung, Partnerwahl, Kinderwunsch, Ortswahl, Weiterbildung, Freizeitplanung – ob Freiberufler, Selbständiger oder Lohnarbeiter – alles steht unter dem selbstauferlegten Diktat seiner Humankapitalrendite.
Um erfolgreich zu sein, muss der Arbeitskraftunternehmer ein Set von mentalen Anforderungen erfüllen, zuallererst die Fähigkeit zur Selbstorganisation, d.h. er muss aus eigenem Antrieb und ohne Fremdsteuerung allein oder im Team arbeiten können.
Dazu kommt die Fähigkeit zu Flexibilität und Verfügbarkeit nach Feierabend, am Sonntag und im Urlaub; zur Arbeit nach Auftragslage; zum Wechsel der Aufgabenstellungen; zur Eigen- und Produktverantwortung; zur Teamarbeit und Arbeitsplatzrotation; zur Weiterbildung, um vielseitig einsetzbar zu bleiben; zur Arbeit in flachen Hierarchien; und vor allem zum modernen Nomadentum, d.h. er muss seine Sesshaftigkeit opfern können zugunsten des Prinzips: «Wo du bist, ist auch dein Arbeitsplatz.»
Nicht zuletzt ist seine Fähigkeit zur Entidentifizierung von den Firmen oder Institutionen gefordert, in denen er arbeitet, und von Kollektivsubjekten wie Nation und Staat oder Idealen wie den Menschenrechten. Je «charakter-loser», desto besser.
Die grundlegende und alles überragende Fähigkeit besteht jedoch darin, alle diese verinnerlichten Leistungszwänge als Ausdruck persönlicher Freiheit zu empfinden. Wer sich im Leistungszwang nicht frei zu fühlen vermag, wird scheitern.
Dieser Typus des Arbeitskraftunternehmers fällt nicht vom Himmel. Er wird in eine Zeit geboren, die sich als Leistungsgesellschaft versteht. Die Institutionen seiner Erziehung und Vergesellschaftung sind die altbekannten: Familie/Partnerschaft, Schule, Betrieb. Es fehlt die Armee. Geblieben ist der Imperativ: Du sollst din Kind in seinen Fähigkeiten entfalten. Der Paradigmenwechsel zeigt sich im Ziel: Die Entfaltung geschieht nicht mehr zu fremdgesteuerten Zwecken. Denn der Imperativ der Leistungsgesellschaft lautet:
Du sollst dich zu deinen eigensten Zwecken entfalten wollen!
Dieser Imperativ regelt alle Beziehungen zwischen den Institutionen und dem Leistungssubjekt: Dessen eigenste Entfaltungsinteressen kommandieren alles, zuallererst die Eltern. Wehe der Sozialisationsinstanz, die in den Verdacht gerät, dem Potenzial des Heranwachsenden nicht gerecht zu werden. Da es Freiheit nur als Freiheit von einem gebietenden Anderen kennt, geschieht die Berufswahl unter den Maximen Freiheit, Lust und Neigung, was wiederum nur im Status des Unternehmers seines Selbst möglich erscheint.
Neue Arbeitswelt
Der Paradigmenwechsel zur Leistungsgesellschaft und zum Leistungssubjekt hängt maßgeblich an technischen Neuerungen, insbesondere an der Computerisierung der Arbeitswelt. Statt zentralisierter Steuerung und Kontrolle über mehrstufige Hierarchieebenen gibt es nunmehr immer komplexere Vernetzungen über computergestützte Informations- und Kommunikationstechnologien. Das flache Netzwerk wird zum Leitbild der Unternehmensorganisation. Die Vorstandsetagen bestimmen nur noch, mit welcher Kapitalrendite WAS produziert wird. Das WIE der Produktion wird in die Hände der Arbeitskraftunternehmer gelegt. Deshalb können sie sich im Zwang zur Leistung «frei» fühlen.
Der spätmoderne Produktionsprozess braucht, um seine Produktivität zu entfalten, anschlussfähige Produzenten, und er schafft sich die Produzenten, die er braucht. Das Disziplinarsubjekt wird zum unbrauchbaren Auslaufmodell.
Die spätmoderne Produktionsweise «schluckt» alle herkömmlichen Widerstandformen.
– Die Strategie der «Selbstermächtigung» kann nicht greifen, denn das Leistungssubjekt, das sich als Unternehmer seines Humankapitals versteht, hat sich bereits seines Selbst bemächtigt.
– Das Leiden an der Entfremdung kann nicht Quelle der Empörung sein, weil sich der Arbeitskraftunternehmer in seiner Leistung «ganz bei sich» fühlt.
– Das Ausbeutungsverhältnis kann nicht zum Widerstand reizen, weil sich der Arbeitskraftunternehmer freiwillig selbst ausbeutet, um sein Humankapital zu verwerten.
– Die Unfreiheit des Arbeitsverhältnisses taugt nicht zur Empörung, weil sich der Arbeitskraftunternehmer in seiner Arbeit frei fühlt.
Burn-out
Parallel zur Überhitzung der Produktionsprozesse überhitzen sich die Produzenten selbst. Denn sie sind permanent einer Steigerung des Zuviel an Leistungsdruck, Information und Kommunikation ausgesetzt. In der Not greift man zu Dopingmitteln. Stressfaktoren wie permanente Überforderung (oder Unterforderung); Unsichtbarkeit der Arbeitsergebnisse, Beschleunigung der Arbeitsabläufe; Zielmargen und Ertragsdruck; Flexibilitätsdogma; Konkurrenz unter Kollegen; Multitasking und die Furcht entlassen zu werden zersetzen das Leistungssubjekt, verhindern Innovation und Kreativität.
Der Leistungsdruck ist kein Schnupfen; es hilft kein biologisches Immunsystem, und das soziale hat sich aufgelöst. Wie soll sich der Arbeitskraftunternehmer gegen ein selbstgewähltes Zuviel an allem schützen? Das Zuviel erscheint ja als Freiheit. Doch die Ressource «Körper» ist begrenzt. Irgendwann «weigert» er sich, weiter so zu funktionieren: Das Leistungssubjekt brennt aus.
Einmal ausgebrannt, gibt es keine Rückkehr in die Überleistung, Überkommunikation und Überinformation mehr. Was aber tun, wenn es stressfreie Arbeitsstellen nicht gibt und einfache Tätigkeiten längst ausgelagert sind? Die «Psycho-Invaliden» haben innerhalb des Burning-out-Systems keine Chance. Und die sich noch im Hamsterrad des «Zuviel an allem» heißlaufen, wissen, dass es nicht humanisierbar ist. Downshifting können vielleicht Einzelne, nicht aber die Wirtschaftsweise als Ganze.
Ob noch drin oder schon draußen, man ist existenziell auf die Ankunft eines Anderen Anfangs von Wirtschaft und Gesellschaft angewiesen – bei Strafe des Untergangs.
*M.Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd.I, Frankfurt 1983, S.171, 168.
Wolfgang Ratzel verantwortet das Autonome Seminar an der Humboldt-Universität zu Berlin, insbesondere die Initiative «Anderer Anfang» (wolfgang.ratzel@t-online.de).
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.