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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2011
Neues aus der Hauptstadt der prekären Beschäftigung

von Jochen Gester

Klage gegen Spätkauf wegen sittenwidriger Löhne.

Berlin glitzert. Abendlich flimmern die Bilder der wohlgekleideten professionellen Politdarsteller in die Wohnzimmer. Hollywoodstars präsentieren sich auf roten Teppichen, und die Touristen genießen die kulturellen Highlights von Friedrichstadtpalast bis Philharmonie. Doch die Alltagsrealität der Metropole ist eine andere. Hier haben sich bedeutende Veränderungen vollzogen, die vor allem die Arbeitswelt erfasst haben.
Eine besondere Rolle spielte die Deindustrialisierung, der ein Großteil des Industriepotenzials im Ostteil der Stadt zum Opfer fiel und die im Westberlin nach und nach die subventionsgestützen verlängerten Werkbänke beseitigte. Die Unternehmen sind nach der Wende an lukrativere Standorte gezogen.

Bereits im Jahr 2000 konstatierte ein Bericht des Wissenschaftszentrums Berlin, die Hauptstadt habe eine Trendsetterrolle beim Abbau des klassischen Normalarbeitsverhältnisses. Nicht mal jede dritte Person im erwerbsfähigen Alter war 1998 noch in diesem Rahmen beschäftigt.

Eine Studie des DGB aus dem Jahr 2008 mit dem Titel «Berlin – Hauptstadt der prekären Beschäftigung» bestätigte erneut diese Entwicklung. Die Untersuchung brachte ans Licht, dass nur noch 40% der Beschäftigten einer unbefristeten Vollzeitarbeit nachgehen.

Im Vergleich der Arbeitsplatzdichte liegt Berlin im Städteranking auf dem letzten Platz. Das Einkommensniveau liegt deutlich unter dem Bundesdurchschnitt, während die geleisteten Arbeitsstunden nirgends so hoch sind. Nur noch in Leipzig ist das Lohnniveau niedriger und der Umfang nicht existenzsichernder Einkommen höher als in der Spreemetropole.

Davon sind kaum Bereiche ausgenommen. Im gewerblichen Sektor boomt vor allem die Leiharbeit und im öffentlichen Dienst zogen die MAE-Jobs ein. Mehr als die Hälfte des in Berlin vor allem durch den Tourismus expandierenden Gastronomiesektors besteht aus Midi- und Minijobbern, und auch die junge Kreativbranche hat ein hohes Prekaritätspotenzial. Der hier erzielte Durchschnittsverdienst liegt an der Armutsschwelle.

Sittenwidriger Lohn

Der stumme Zwang dieser Verhältnisse wird nur sichtbar, wenn Menschen sie nicht mehr ertragen können. Beispielhaft dafür war der Konflikt im Berliner Babylon-Kino, über den wir in der SoZ ausführlich berichteten. Jetzt sind die prekären Ränder des Einzelhandels ins Blickfeld geraten.

Es geht um einen der Spätkauf-Läden, die vor allem in den ärmeren Stadtteilen wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Sie bieten Alkoholika und Snacks sowie Kleinigkeiten des täglichen Bedarfs. Geöffnet haben sie bis Mitternacht oder sogar die ganze Nacht hindurch. Zumeist werden diese Läden von Menschen betrieben, denen der reguläre Arbeitsmarkt versperrt ist und die hier nach dem Strohhalm greifen, um überhaupt Einnahmen zu bekommen. Oft sind es Migranten, die ähnlich wie in den Franchiseunternehmen der Discounter wie Edeka ihre ganze Familie als Arbeitskräfte mobilisieren. Schlechter dran sind oft nur noch die, die extern bei ihnen angestellt sind.

Nun hat ein Beschäftigter einer Spätkauf-Niederlassung seinen Arbeitgeber wegen sittenwidriger Entlohnung verklagt. Daniel R., Minijobber des Spätkauf «Mumbai Corner» in Friedrichshain, machte vor Gericht geltend, er habe statt der vereinbarten 20 Stunden im Monat 60 Stunden in der Woche gearbeitet und sei mit einem Stundenlohn unter 1 Euro abgespeist worden. Da er dazu noch geringschätzig behandelt worden sei, habe er sich beim Chef beschwert. Darauf erhielt er die Kündigung. Damit ging er an die Öffentlichkeit und erhielt Unterstützung durch die FAU und durch die Gruppe Internationale KommunistInnen sowie durch Nachbarn, die eine Solidaritätskundgebung mit 60 Leuten auf die Beine stellen konnten.

Mohammed Nasir Saeed, der Betreiber des Spätkauf, vor Gericht mit der Forderung des Klägers auf Nachzahlung von 83000 Euro konfrontiert, machte jedoch keinerlei Anstalten, sein Verhalten zu korrigieren. Stattdessen zog er alle Register, um Daniel R. und seine Unterstützer einzuschüchtern. Gegen Labournet Germany und das Internetportal Trend online ging er ebenso juristisch vor wie gegen den Kläger selbst, der mehrfach Anzeigen wegen Nötigung und Verleumdung erhielt.

Offensichtlich will er damit erreichen, dass der vom Gericht vorgeschlagene Vergleich für ihn so gütlich ausfällt, dass sich das Ganze im Nachhinein für ihn gelohnt hat.

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