Sahra Wagenknecht: Freiheit statt Kapitalismus, Frankfurt: Eichborn, 2011, 365 S., 19,95 Euro
von Paul B. Kleiser
Es ist eine Art Programmschrift, vermutlich mit Blick auf die Debatten um das neue Programm der Linkspartei verfasst. In gewisser Weise tritt Sahra Wagenknecht in die Fußstapfen von Oskar Lafontaine und schreibt sein Werk Politik für alle in die Gegenwart fort; vielleicht bietet sie sich damit auch für höhere Aufgaben an. Angeblich möchte der Star zahlreicher Talkshows «den typischen FDPlern entgegenhalten, wie Marktwirtschaft tatsächlich funktioniert». Es fragt sich nur, welches Idealbild von Markt hier verkündet wird.
Wagenknecht beginnt mit der Diagnose, der «Kapitalismus ist alt, krank und unproduktiv» geworden, daher solle er durch einen «Sozialismus» ersetzt werden, «der nicht Zentralismus, sondern Leistung und Wettbewerb hochhält». Sie bemüht Ludwig Erhard, der die Parole «Wohlstand für alle» ausgab und auf der Grundlage der «ordoliberalen» Theorien der Freiburger Schule gegen die «enthemmten Marktfreiheiten» für eine «soziale Marktwirtschaft» eingetreten sei, die allen Menschen ein «menschenwürdiges Leben ermöglicht». Die Ordoliberalen wollten im Gegensatz zum heute vorherrschenden neoliberalen Mainstream mit seinem Marktradikalismus eine «sozial- und ordnungspolitische Bändigung» des Kapitalismus. Diese bestehe in echten Reallohnsteigerungen und einem Ausbau des Sozialstaats, in der Verhinderung bzw. Zerschlagung von Monopolen, in der persönlichen Haftung von Unternehmern und in der Führung und Lenkung von Unternehmen der Daseinsvorsorge in öffentlicher Hand, was zu einer «gemischten Wirtschaft» führe. Außerdem solle der Außenhandel tendenziell im Gleichgewicht sein. Hierhin möchte sie im Grunde durch eine Verstaatlichung der Banken und der Großkonzerne zurück.
Ihr «kreativer Sozialismus» stellt nichts anderes dar als eine «gemischte Wirtschaft» mit einem starken staatlichen Sektor (gegebenenfalls mit einer Rahmenplanung à la Jean Monnet), wie er in der Nachkriegszeit in Frankreich oder Österreich, aber auch in vielen Ländern der Dritten Welt (Indien, Algerien, Libyen usw.) bestand. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Die Rückführung von privatisierten Unternehmen, etwa der Energie- oder Abfallwirtschaft in kommunales oder staatliches Eigentum oder die Vergesellschaftung der Banken und Versicherungen wäre durchaus ein Fortschritt. Aber auch nach der Verstaatlichung z.B. von Renault 1946 brach in Frankreich kein Sozialismus aus.
In der Nachfolge von Joseph Schumpeter, der die Theorie der «kreativen Zerstörung» entwickelte, möchte Wagenknecht «den Unternehmer vom bloßen Kapitalisten unterscheiden». «Kapitalist ist der Kouponabschneider, der das Unternehmen als reines Anlageobjekt betrachtet und nur daran interessiert ist, möglichst viel Rendite herauszuholen. Für den Prozess des technologischen Fortschritts und der ‹kreativen Zerstörung› ist er bedeutungslos. Unternehmer dagegen ist für Schumpeter derjenige, der auf der Grundlage einer neuen Idee ... ein Unternehmen gründet und aufbaut» (Wagenknecht, S.126). Dieser gute Unternehmer macht zwar «Gewinn» (sonst spricht sie von Profit), doch er wird den größten Teil des Gewinns wieder ins Unternehmen investieren.
Es soll hier nicht bestritten werden, dass es anständige und sozial handelnde Unternehmer gibt. Das Problem ist, dass Wagenknecht mit ihrem moralischen Augenaufschlag die Bewegungsgesetze des Kapitalismus aus den Augen verliert. Sie bestehen darin, dass in der Konkurrenz «ein Kapitalist viele andere totschlägt» (Marx) und dass aller «Gewinn» aus der unbezahlten Mehrarbeit der Arbeitenden resultiert. Überhaupt kommen bei ihr in ihrer paternalistischen Haltung die Menschen, die die ganze Arbeit verrichten, nicht als Subjekte, sondern nur als Lohnempfänger und sozialstaatlich Versorgte vor. Gute Löhne und eine gescheite soziale Absicherung – das war’s dann! Wenn sie von Demokratie spricht, meint sie die bürgerliche, parlamentarische Demokratie. Zur Frage der Partizipation fällt ihr nichts ein.
Einmal abgesehen davon, dass sie den fordistischen Kapitalismus der Nachkriegszeit idealisiert – die entscheidende Frage ist doch, ob die Menschen einer Gesellschaft ihre Bedürfnisbefriedigung in einem Prozess demokratischer Planung organisieren, oder ob weiterhin Konkurrenz und Profitmaximierung die Triebfedern des wirtschaftlichen Handelns sein sollen. Im Übrigen vergisst ihre recht positive Einschätzung der chinesischen Entwicklung, dass die dortige Konsumquote (rund 40%) eine der niedrigsten der Welt ist, was auf die Überausbeutung der Arbeitenden verweist – da mögen die Investitionen des Staates noch so produktiv sein. Und der Reichtum einer kleinen Minderheit nimmt auch dort explosionsartig zu.
Unter Sozialismus verstehen wir eine Gesellschaft, in der Warenwirtschaft und Profit zugunsten der Befriedigung der gesamtgesellschaftlichen Bedürfnisse systematisch zurückgedrängt werden. Das schließt nicht aus, dass in diversen Bereichen die kleine Warenproduktion weiter besteht. Entscheidend ist jedoch die direkte demokratische Beteiligung der großen Mehrheit der Bevölkerung an den Entscheidungen über ihre Zukunft. Ohne eine solche breiteste Beteiligung der Bevölkerung an der Politik bleiben auch Wagenknechts Verstaatlichungsforderungen ein frommer Wunsch.
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