von Carine Clément
Die Wahlen zur russischen Duma am 4.Dezember endeten wie gewohnt mit massiven Fälschungen und dem Druck der Machthaber, um den Sieg der regierenden Partei «Einiges Russland» zu sichern. Diesmal hat die Wahlfälschung aber jedes Maß überschritten und die größte Protestbewegung seit dem Zusammenbruch der UdSSR vor zwanzig Jahren provoziert.
Die Wahlergebnisse sagen an sich nicht viel aus: 49,5% für «Einiges Russland», 19,2% für die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF), 13,2% für «Gerechtes Russland» (eine sich sozialdemokratisch nennende Partei) und 11,7% für die Partei des nationalistischen Demagogen Shirinowski. Die Partei an der Macht hat die absolute Mehrheit in der Duma verloren. Ein großer Teil der Kommentatoren hält jedoch sogar dieses Ergebnis für übertrieben, der reale Stimmenanteil von «Einiges Russland» soll bei 10–15% liegen. Auf jeden Fall ist es ein Fake.
Zu Beginn des Wahlkampfs hatten die Provinzgouverneure vom Zentralbüro der Partei Anweisung erhalten, sie hätten 60–70% der Stimmen einzusammeln. Doch das erwies sich als undurchführbar. Ein großer Teil der Wahlberechtigten ging entweder gar nicht zur Wahl oder er folgte der populärsten Losung in diesem Wahlkampf – jedenfalls unter solchen, die sich sonst wenig für Politik interessieren –, die da lautete: «Wählt die Partei, die ihr wählen wollt, nur nicht die der Gauner und Diebe!» Die Hoffnung war geboren, der regierenden Partei der anmaßenden Bürokraten und Führer, die glauben, sich alles erlauben zu können, eine Ohrfeige zu verpassen. «Einiges Russland» ist zunehmend unpopulär, nicht nur wegen seiner antisozialen Politik, sondern auch und vor allem wegen der Arroganz, Verachtung für die einfachen Bürger, Korruption und Profitgier, die seine Repräsentanten an den Tag legen.
Viel mehr als bei früheren Wahlen engagierten sich einfache Bürger als Wahlbeobachter für die eine oder andere Oppositionspartei oder sogar unabhängig davon – die Vereinigung Golos [Stimme], die vom Regime beschuldigt wurde, im Solde «ausländischer Mächte» zu stehen, hatte dafür geworben. Es ist eine Sache, zu hören, wie andere über Wahlbetrug reden, eine andere, sich aus einem Wahlbüro hinauswerfen zu lassen, weil man unbequem ist; zu erleben, wie Urnen gefüllt werden, oder ganze Busladungen eng bewachter Wähler ihren «Auftrag» erledigen; ein Protokoll in den Händen zu haben und dann auf der offiziellen Webseite der zentralen oder regionalen Wahlkommission komplett andere Zahlen zu entdecken usw. Das Internet ist voll von Videos und wütenden Zeugenaussagen, die von Beobachtern veröffentlicht wurden. Das ist persönlich, das ist erstaunlich, das schockiert!
Wird Straßenprotest jetzt Mode?
Viele Wahlbeobachter sind auf die Straßen geströmt, viele Freunde, Kollegen, Eltern. Und dann noch all diejenigen, die in den sozialen Netzen des Web aktiv sind, sowie alle Enttäuschten, die auf eine deutlichere Niederlage von «Einiges Russland» gehofft hatten: viele junge Menschen, die weit weniger Respekt haben als die ältere Generation und einen neuen Stil, ein anderes Verhältnis zur Autorität pflegen.
Unmittelbar nach den Wahlen demonstrierten in Moskau fast 10000 Menschen, in St.Petersburg etwas mehr. In Moskau wurden über 300 Personen festgenommen, etwa 200 in St.Petersburg. Das verhinderte nicht, dass die Mobilisierungen in den darauffolgenden Tagen weitergingen, ebenso die Festnahmen.
Viele haben nie zuvor an einer Demonstration teilgenommen. Und manche dieser Neulinge finden sich schon bei ihrem ersten Mal in Polizeigewahrsam wieder, bis zu 48 Stunden auf ein Urteil wartend, in Kommissariaten, die ganz und gar nicht darauf vorbereitet sind, so viele Menschen festzunehmen, ohne Nahrung zusammengepfercht. Schließlich werden sie zu Haftstrafen bis zu 15 Tagen verurteilt. Den Berichten nach zu urteilen, die durch die Gefängnismauern dringen, sind diese «Novizen» aber nun nicht eingeschüchtert und kriechen zu Kreuze, nein, sie beginnen Hungerstreiks und radikalisieren sich. Gerade freigelassen, sind sie schon wieder auf der Straße.
Empörung über Wahlfälschungen, Brutalität und Zynismus der Betrüger; die Wut, der eigenen Stimme beraubt worden zu sein; die Solidarität mit den zu Unrecht Festgenommenen – das sind die Zutaten der Mobilisierung, die nun einen Schneeballeffekt hat. Dafür gibt es Unterstützung durch populäre Meinungsmacher – Journalisten, Sänger und andere Künstler. Wenn diese Leute nun offen Kritik üben, ist dies auch ein Zeichen: Wird Straßenprotest jetzt Mode? Bislang war er das Monopol von «Versagern» und «Idioten».
Es ist geschehen, was es seit der Perestroika nicht mehr gegeben hat: Die Ereignisse finden in der Hauptstadt statt, das satte, bourgeoise, intellektuelle, privilegierte Moskau geht voran. Die Medien können so massive Demonstrationen in Moskau nicht ignorieren, das ganze Land verfolgt aufmerksam, was dort geschieht.
Vereinnahmungen
Die internationale Presse hat zum Teil die liberale Rechte zum Sprachrohr der Bewegung erkoren. Doch erstens handelt es sich um eine vollständig «spontane» Basismobilisierung, ohne anerkannte Führung und vor allem ohne Parteibindung, weder an Oppositionsparteien in der Duma, noch an Oppositionsparteien außerhalb des Systems. Keine Partei, auch keine soziale Bewegung kann sich brüsten, die Welle der Empörung organisiert zu haben oder gar zu repräsentieren.
Doch genau dies tun die Hauptakteure der Politshows und Anführer von Anti-Putin-Organisationen wie «Anderes Russland» (Garry Kasparow) und Solidarnost (Boris Nemzow). Boris Nemzow war derjenige, der in der Nacht vom 8. auf den 9.Dezember hinter dem Rücken der offiziellen Organisatoren mit dem Moskauer Bürgermeister die Verlegung der Großkundgebung am 10.Dezember vom Platz der Revolution auf den Bolotnaja-Platz aushandelte – ohne einen Verantwortlichen für die Mobilisierung zu konsultieren, während einer ihrer offiziellen Organisatoren, Sergej Udalzow (von der Linksfront), nach einem Hungerstreik im Gefängniskrankenhaus lag und eine Symbolfigur der Bewegung, Alexej Nawalny, eine 15-tägige Gefängnisstrafe absaß.
Schließlich fällt die eher zaghafte Präsenz der sozialen Bewegungen, vor allem der Gewerkschaften, auf. Sie fürchten, sich in einem zu deutlich politischen Kampf zu engagieren, oder auch für eine Sache, die nicht direkt mit ihrer Zielsetzung zu tun hat. Die Mehrzahl ihrer Mitglieder ist jedoch in der Bewegung präsent. Zu den herausragenden Figuren der Mobilisierung in Moskau gehört z.B. Jewgenija Tschirikowa, führend in der Bewegung für die Verteidigung des Waldes von Chimki (im Großraum Moskau) und aufsteigender Stern der neuen sozialen Bewegungen.
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