von Boris Kagarlitzki
In einem Interview für Socialist Worker, USA, erklärte Boris Kagarlitzki am 15.Dezember:
Als er 1999 an die Macht kam, gelang es Putin zunächst, eine Phase der wirtschaftlichen Expansion und Stabilität einzuleiten – bis zur Weltwirtschaftskrise 2007/08. In der Zeit gab es ein reales wirtschaftliches Wachstum, doch der größte Teil des industriellen Outputs wurde in veralteten sowjetischen Anlagen geleistet oder durch ausländische Direktinvestitionen in einigen sehr geschützten Wirtschaftszweigen wie der Automobilindustrie.
Als 2008 der Ölpreis einbrach, ging der Industrieausstoß zurück, die Arbeitslosigkeit nahm zu und eine soziale Krise brach aus. Plötzlich entdeckten die Menschen, dass in der Ära Putin die Reste des Sozialstaats aus der sowjetischen Zeit unter Beschuss gekommen oder aufgelöst worden waren. Jetzt gibt es systematische Angriffe auf das Bildungs- und Gesundheitswesen und auf einige andere soziale Einrichtungen. Wir leben unter einem Sparregime, wie in Europa.
Für das Verständnis der politischen Situation ist wichtig, dass es so gut wie keine wirkliche Opposition gibt. Die sog. Liberalen (sie haben mit den Liberalen im Westen nichts zu tun) sind in wirtschaftlichen Fragen viel schlimmer als Putin. Ihre Kritik ist unpopulär. Die KP, die Faschisten oder die sog. Sozialdemokraten werden nicht als Alternative wahrgenommen. Der Linken fehlt es an einer politischen Organisation. Sie hat kaum Zugang zu den Medien, sie ist marginal, sektiererisch und in verschiedene Gruppen gespalten. Es gab bisher keine Kraft, die ein politischer Attraktionspol hätte sein können.
Die Mehrzahl der Menschen ist deshalb nicht zur Wahl gegangen oder hat einfach gegen «Einiges Russland» gestimmt, nicht nur in den Großstädten, auch auf dem Land. Als die Regierung mitbekam, was da los war, beschloss sie in letzter Minute, die Wahlen zu manipulieren. Ich bin sicher, dass das nicht von Anfang an geplant war, ein gewisses Maß an Wahlfälschung ist in Russland üblich, aber nicht in diesem Umfang.
Deshalb passierten so skandalöse Dinge. Sie waren schlecht vorbereitet. In Hunderten von Fällen wurden sie ertappt, oftmals wurden sie mit dem Handy gefilmt oder von Wahlbeobachtern denunziert. Manche Wahlergebnisse waren absurd: In Rostow z.B. lag die Wahlbeteiligung bei 140%.
Im Verlauf der Proteste bildete sich ein spontanes Bündnis verschiedener politischer Kräfte, vorwiegend von Linken und Liberalen. Es zerbrach, als die Linke Front (ein Bündnis verschiedener linker Organisationen) für den 10.Dezember auf dem Revolutionsplatz in Moskau eine Großkundgebung ankündigte und die Liberalen versuchten, diese für sich zu kapern, indem sie sie, mit Unterstützung des Bürgermeisters, zum Bolotnaja-Platz (Sumpfplatz) umleiteten (es gab einen Haufen Witze darüber: Wir gehen von der Revolution in den Sumpf). Die Liberalen haben es geschafft, die Kundgebung und die Medienbotschaften zu kontrollieren, die Linke wurde völlig marginalisiert.
Auf der Demonstration vom 10.Dezember hat sich auch ein Block zwischen den Liberalen und der extremen Rechten gebildet. Die Liberalen haben den Rechtsextremen erlaubt, mit ihren imperialen Fahnen auf den Kundgebungsplatz zu marschieren. Zum ersten Mal hat ein Neonazi bei uns zu einer großen Menschenmenge gesprochen – eine skandalöse Sache, die eine Menge Leute demoralisiert hat.
Doch die Liberalen kontrollieren die Bewegung an keiner Stelle. Sie werden eher dafür sorgen, dass sie sich totläuft: am 17. und 24.Dezember und am 1.Januar soll es weitere Demonstrationen geben. Der Bewegung geht die Puste aus, weil die Regierung die Wahlen nicht für ungültig erklärt und das Wahlgesetz nicht ändern will.
Dennoch haben diejenigen Recht, die sagen, eine neue russische Revolution hat begonnen. An diesem 10.Dezember fanden Demonstrationen im ganzen Land statt, anders als in Moskau ging es dabei in der Mehrzahl der Fälle um soziale Fragen und um Kritik am wirtschaftlichen und sozialen System.
HEs ist gut, dass es zwischen den Liberalen und den Linken zum Bruch gekommen ist. Die Linke beteiligt sich an Protestaktionen der Liberalen, aber sie spürt, dass sie etwas anderes will. Demokratische Fragen sind wichtig. Doch die Liberalen führen uns in eine Sackgasse. Wir müssen uns getrennt organisieren in den Betrieben, an Universitäten und Schulen, und radikalere Formen des Protests entwickeln, wie die Globalisierungsgegner im Westen. Die Liberalen verlieren an Boden, weil sie nicht die Fragen ansprechen, die die Masse der Menschen interessiert. Die Linke muss ihre eigene Agenda entwickeln.
Boris Kagarlitzki lehrt am Institut für vergleichende Politikwissenschaft an der Russischen Akademie der Wissenschaften und ist ein im Westen bekannter unabhängiger Sozialist.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.