Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2012
von Anna Meister

Laut Medienberichten geht der sexuelle Missbrauch an Kindern zurück. Die Sozialpädagogin Anna Meister hinterfragt, ob das wirklich der Fall sein kann.
Emma online wusste am 20.Oktober 2011 zu berichten: «Die gute Nachricht: Der Missbrauch an Mädchen und Jungen geht zurück. 11500 Menschen zwischen 16 und 40 Jahren hatte das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) im Auftrag von Bundesbildungsministerin Schavan befragt. Das Ergebnis: 6,4% der weiblichen und 1,3% der männlichen Befragten gaben an, vor ihrem 16.Lebensjahr mindestens einen sexuellen Übergriff erlebt zu haben. Vor knapp 20 Jahren hatten noch 8,6% der Frauen und 2,8% der Männer erklärt, als Kind oder Jugendliche sexuell missbraucht worden zu sein.»

Geld und Sex (und dahinter versteckt: Macht) sind die Sujets, hinter denen die größte Bereitschaft der menschlichen Spezies zu destruktivem, asozialem Handeln steht. Es ist deshalb eigenartig, wenn eine Zeitschrift, die den Feminismus gepachtet zu haben meint, «Entwarnung» im Bereich des sexuellen Missbrauchs gibt und als «Beweismittel» eine Befragung vorlegt, die unter melde- und aussagewilligen «Betroffenen» durchgeführt wurde. Bekanntermaßen ist ein Leitsymptom der sexuellen Traumatisierung das Verschweigen, das Unvermögen, sich zu Erlebnissen zu äußern, die nicht verkraftet werden können, bis hin zum «Vergessen» und Verleugnen. Eine solche Umfrage ist nichts als sinnloses Futter für anspruchslose Statistiker.

«Viel» Geld wurde in die öffentliche Hand genommen, um ein Zeichen zu setzen, dass dem Übel an die Wurzel gegangen werden soll, doch die tatsächliche Wurzel wird weder erkannt noch benannt – weder von Emma noch von denen, die mit der einen Hand Geld für Sexualerziehung ausgeben und mit der anderen, wie kürzlich der CDU-Landtagsabgeordnete Mindermann, auf Facebook schlüpfrige Fragen an 15-Jährige stellen.

Aber warum sollte sich jemand auch die Mühe machen, wirklich aussagekräftige Daten über die tatsächliche «Lage» zu erheben, nur um am Ende gesagt zu bekommen: Wir wissen Bescheid? Ändern tun wir nichts. Zumindest nicht dort, wo es im System wehtun könnte.

Was ist sexueller Missbrauch und was wird als solcher wahrgenommen? Aus verschiedenen Workshops im Rahmen des Sexualkundeunterrichts an unterschiedlichen Schultypen (Jahrgangsstufen 6–10) lässt sich Folgendes berichten:

Im Verlauf der vergangenen 20 Jahre hat sich bei der Einschätzung «Was lasse ich zu, wo ist meine Grenze?» Erstaunliches getan. Aus nahe liegenden Gründen ist die «Toleranz» gegenüber dem Umgang mit Sexualität und den damit verbundenen Übergriffen enorm gestiegen – insbesondere bei Mädchen der Haupt- und Förderschulen; in modifizierter Form auch in Realschulen und Gymnasien. Die dahinter stehende Not bricht sich in anonymen Fragekästen Bahn: «Vor der Schule treffen wir uns im Klo und alle ziehen ihre Unterhosen aus. Warum ist das geil?»

Nicht gerade erbaulich, ebenso wenig wie der Trend, zum Abitur von den Eltern einen neuen Busen geschenkt zu bekommen, oder eine Schamlippenkorrektur: Das ist nahezu eine Produktoptimierung, Sex wird zum Konsumgut, statt eine körperliche und mentale Begegnung auf Augenhöhe zu sein. Dabei bleiben Mädchen und Jungen gleichermaßen als Beziehungskrüppel und Opfer von Übergriffigkeit und Missbrauch auf der Strecke – und nehmen es nicht einmal als Ursache der daraus zwangsläufig resultierenden Probleme wahr.

Wie kann man dieser Art der Herabwürdigung entgegentreten? Die Hersteller von Beauty- und Wellnessprodukten, die Pharmaindustrie und die Schönheitschirurgen haben daran wohl kein Interesse. Wie sieht eigentlich der öffentliche Diskurs zu diesem Problem aus?

«Mit der Thematik wird offener umgegangen», d.h. es wird über Täter, Opfer und Therapie oder Entschädigung diskutiert. Mehr oder weniger sensationslüstern und/oder betroffenheitsgeschwängert wird geschwallt, geschrieben und gesendet. Neue Therapieformen werden entwickelt, wenn die aus Missbrauch und Entgrenzung resultierenden Störungen zu ökonomischen Ausfällen führen bis hin zur Frühverrentung. Ist also alles im grünen Bereich? Das kann man bezweifeln.

Die entscheidende Frage ist: Wen trifft die Problematik so, dass ein Denkprozess zustande kommt, an dessen Ende vielleicht die Frage steht: Warum ist das so und wie könnte oder sollte es anders sein?

Die Veränderung muss im eigenen Kopf anfangen, sofort und überall, quer durch alle gesellschaftlichen Gruppen und insbesondere im Milieu derer, die sich Gesellschaftsveränderung auf die Fahne geschrieben haben. Die fortschreitende emotionale Verkrüppelung, erzeugt durch die zunehmende warenförmige Zurichtung des Menschen, ist weder durch Kompensationszahlungen, noch durch polizeiliche Maßnahmen aufzuhalten – und wer, wie Emma, die Aussage, dass die «gestiegene Wehrhaftigkeit der Opfer ... die entscheidende Ursache für die sinkenden Missbrauchs-Zahlen» sei, unkommentiert präsentiert, macht sich der Irreführung schuldig.

Nicht die Missbrauchszahlen sind gesunken, sondern die Toleranzschwelle ist gestiegen, und das Problem ist nicht die hohe Zahl der unsanktionierten «Vorfälle», sondern die irrige Ansicht, dem sei mit «Abschreckung» beizukommen. Wer das meint, der hat nichts begriffen.

 

Die Autorin ist seit 35 Jahren als Sozialpädagogin im Bereich der Sexualerziehung und Gesundheitsförderung tätig.

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