von Aljoscha Pilger
Das Leben der Roma im poststalinistischen Ungarn ist geprägt von Armut, sozialer Ausgrenzung, materiellen Entbehrungen, verbaler rassistischer Hetze und gewalttätigen Übergriffen – teilweise mit Todesfolge. Sie leben am sprichwörtlichen «Rande» einer Gesellschaft, die sie als Projektionsfläche für gesellschaftliche Krisenerscheinungen und Umbrüche missbraucht.
Gewalttaten gegen Roma
Vor mehr als zweieinhalb Jahren ließ in der Nacht vom 22. auf den 23.Februar 2009 ein brutaler Mord in der ungarischen Kleinstadt Tatárszentgyörgy, rund 50 Kilometer südlich von Budapest, die europäische Presse aufhorchen: Unbekannte setzten das Haus der Roma-Familie Csorba mit Molotowcocktails in Brand und erschossen dann den aus dem Haus flüchtenden Vater und den vierjährigen Sohn mit einer Schrotflinte. Eine Tochter überlebte den Angriff schwer verletzt.
Solche rassistisch motivierten Übergriffe auf Roma, die mit einem Anteil von ungefähr 10% an der Gesamtbevölkerung die größte ethnische Minderheit bilden, sind in Ungarn seit einigen Jahren keine Seltenheit mehr. 2008 hatte es in der Stadt Nagycsecs einen ähnlichen Vorfall gegeben: Zwei Roma wurden erschossen, nachdem ihr Haus in Brand gesetzt worden war.
Wenige Monate nach den Geschehnissen in Tatárszentgyörgy konnten im September 2009 in der Stadt Debrecen vier Verdächtige festgenommen werden. Ihnen wurde vorgeworfen, neben den Morden in Nagycsecs und Tatárszentgyörgy zwei weitere Morde an Roma begangen und das Leben von 55 weiteren Personen direkt gefährdet zu haben. Wie die deutschsprachige ungarische Internetzeitung Pester Lloyd in einem Artikel vom 29.3.2011 schrieb, konnten «Verbindungen in das Umfeld rechtsextremistischer Organisationen» zwar nachgewiesen werden, allerdings haben die zuständigen Behörden nicht genauer konkretisiert, um welche Organisationen es sich handelt.
Der Pester Lloyd vermutet außerdem einen Zusammenhang zwischen den Anschlägen und den Aufmärschen der sog. «Ungarischen Garde» – dem mittlerweile verbotenen, aber schon wieder neu gegründeten paramilitärischen Arm der antiziganistischen und antisemitischen Partei Jobbik («Bewegung für ein besseres Ungarn»). In den Städten, in denen sich die Anschläge ereigneten, hatten jeweils kurz zuvor Aufmärsche der Garde stattgefunden, was laut Pester Lloyd vor Ort jedes Mal zur Entstehung einer Art Pogromstimmung beigetragen habe.
Die Unterstellung dieses Zusammenhangs kommt nicht von ungefähr, geht doch die zunehmend aggressive Stimmung gegenüber den Roma Hand in Hand mit dem Erstarken von Jobbik und der vermehrten Präsenz der Ungarischen Garde in der Öffentlichkeit. Dieser Rassismus wird erst dadurch wirklich möglich und wirkmächtig, dass es eine ungarische Zivilgesellschaft gibt, die entweder wegschaut oder unterstützenswert findet, was Jobbik und Konsorten propagieren und tun.
Auch Bence Békés, Soziologe und Romaexperte, kennt das Phänomen. Er beschreibt es in einem Beitrag des TV-Senders Arte so: «Für diese Taten gibt es eine gewisse Unterstützung in der Gesellschaft, nicht nur von den Rechtsextremisten, sondern auch bei den Anderen. Eigentlich sind alle gegen die Roma, auch wenn sie es nicht offen zugeben.»
Rassistische «Bürgerwehren»
Dies zeigt auch das Beispiel der nordostungarischen Kleinstadt Gyöngyöspata. Erstmals ins Licht der Öffentlichkeit rückte der Ort an Ostern 2011. Eine neofaschistische Bürgerwehr mit dem Namen Vederö («Schutzmacht») lud Sympathisanten aus ganz Ungarn zu einer Wehrsportübung in unmittelbarer Nähe der örtlichen Romasiedlung ein – was den in Ungarn tätigen US-amerikanischen Geschäftsmann Richard Field dazu veranlasste, am 22. April mit Hilfe des Roten Kreuzes 276 Frauen und Kinder der Roma-Minderheit zu evakuieren. Einige Wochen zuvor hatte schon eine andere Bürgerwehr namens Szebb Jövöért («Für eine bessere Zukunft») den Ort wochenlang regelrecht belagert und versucht, sich als Ordnungsmacht zu etablieren, worunter vor allem die dort lebenden Roma litten. Herbeigerufen hatte sie der damalige Bürgermeister László Tabi persönlich, um der angeblich überhand nehmenden sog. «Zigeunerkriminalität» Einhalt zu gebieten.
Die FIDESZ-Regierung unter Viktor Orbán sah sich zunächst in keiner Weise genötigt, etwas gegen den Terror der Bürgerwehren und das faktische außer Kraft Setzen des staatlichen Gewaltmonopols zu unternehmen. Erst als es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen jugendlichen Roma und den Anhänger der Bürgerwehr kam, griff die Regierung ein und ließ die Bürgerwehr durch die Polizei aus dem Ort vertreiben.
Einige Monate nach der Belagerung gab es im Ort Neuwahlen, der bisherige Bürgermeister Tabi war von seinem Amt zurückgetreten. Der Kandidat von Jobbik, János Oszkár Juhász, der 2010 lediglich 5,8% der Stimmen erreicht hatte, trug mit 33,8% den Sieg davon. Die enormen Zugewinne für Juhász müssen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem «Engagement» der Bürgerwehr vor Ort und den daraus resultierenden Ereignissen gesehen werden. Der Alltag der Roma von Gyöngyöspata hat sich im Vergleich zum Frühjahr kaum verbessert – im Gegenteil, mehr denn je ist er geprägt von tagtäglichen Schikanen, Provokationen, willkürlichen Strafen und einem allgemeinen Klima der Angst.
Arbeitsdienst als Integrationsmaßnahme
Nachdem die Regierung im Frühjahr zunächst durch bewusstes Nichthandeln aufgefallen war, legte sie in den Folgemonaten einen umso größeren Aktionismus an den Tag. Dieser gipfelte schließlich in dem Beschluss, Gyöngyöspata zu einem sozial- und integrationspolitischen Musterprojekt machen zu wollen. Konkret werden vor Ort zwei Projekte im Rahmen des bald ungarnweit gültigen, «verpflichtenden Arbeitsdienstes» getestet, bei dem Sozialhilfeempfänger zu (gemeinnütziger) Arbeit gezwungen werden können. Da in Gyöngyöspata, wie in fast allen ländlichen Gebieten Ungarns, ein großer Teil der Roma-Bevölkerung von Sozialhilfe lebt, sind es vor allem Angehörige der ethnischen Minderheit, die nun diese Art von «Zwangsarbeit» leisten müssen. Der Begriff «Zwang» ist zutreffend, weil der Staat den Betroffenen die Sozialhilfe streichen kann, wenn sie der Arbeit ohne triftigen Grund fern bleiben. In Gyöngyöspata wurden zunächst 40 Personen zum Arbeitsdienst verpflichtet, darunter 37 Roma.
Das «Modellprojekt» ist vor dem Hintergrund des geplanten Umbaus des ungarischen Wohlfahrtsstaats hin zu einem Leistungsstaat zu sehen. Die Grundlage dafür bildet das Konzept des «verpflichtenden Arbeitsdienstes» – dabei soll der Zeitraum, in dem Arbeitslose ein Recht auf Stütze haben, von vormals 270 auf 90 Tage reduziert werden. Die Idee der Zwangsarbeit stammt nicht von Fidesz, sondern war im Wahlkampf 2010 von Jobbik eingebracht worden.
Als Reaktion auf die Entwicklungen seit dem Frühjahr haben nach Angaben des Pester Lloyd (17.11.2011) mittlerweile etwa 60 Roma «dem Dorf und Ungarn den Rücken gekehrt und sind nach Kanada geflohen». Auch wenn die Vorkommnisse in Gyöngyöspata nicht unbedingt Alltag in Ungarn sind, kann man dem Pester Lloyd zustimmen, wenn er schreibt: Dort brach das aus, «was sich an vielen Orten unter der dünnen Decke als ungelöster Konflikt zusammenbraut». Die Rede ist von der in den letzten Jahren stetig schwindenden Bereitschaft der ungarischen Mehrheitsgesellschaft, mit der Minderheit der Roma friedlich zusammenzuleben. Denn anders als Jobbik und teilweise auch Fidesz sowie die ihnen nahestehenden Medien behaupten, sind es nicht die Roma, die ein friedliches Zusammenleben immer unmöglicher machen, sondern die Mehrheitsgesellschaft selbst.
Der Teufelskreis der Ausgrenzung
Die Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky hat festgestellt: «Feindlichkeit gegenüber Roma [hat] in Ungarn Tradition und ist in der Gesellschaft verbreitet. Nach einer Umfrage sind über 80% der Befragten antiziganistisch eingestellt.» Dies manifestiert sich im Alltag in der faktischen Ausgrenzung der Roma vom politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben. Diese Ausgrenzung bedient eine perfide Logik: Aufgrund der weitgehenden Ausgrenzung vom ungarischen Arbeitsmarkt, finden viele Roma keinen Job und sind arbeitslos; um sich dennoch über Wasser halten und sich einen gewissen Lebensstandard leisten zu können, wird jede Arbeitskraft benötigt. Das führt dazu, dass Kinder nicht die Schulbildung erhalten, die sie eigentlich bräuchten, um in der ungarischen Gesellschaft sozial aufsteigen zu können.
Doch selbst wenn Romakindern der Besuch einer weiterführenden Schule möglich gemacht wird, bedeutet das keinesfalls, dass ihnen dort alle Türen offen stehen. Im Gegenteil: Der Rassismus ist auch in den Schulen spürbar. Die «besseren» Schulen verweigern Romakindern häufig die Aufnahme, und viele Eltern nehmen ihre Kinder von der Schule, wenn sie feststellen, dass Romakinder diese besuchen. So entstehen Schulen, die mehrheitlich von Romakindern besucht werden. Dieser institutionelle Rassismus ist keineswegs auf die Institution Schule beschränkt, er zieht sich durch den gesamten ungarischen Staats- und Verwaltungsapparat. Allerdings gibt es auch Ausnahmen, also Roma, die hohe politische oder gesellschaftliche Positionen bekleiden.
Die gegenwärtige prekäre Lage der Roma hängt auch damit zusammen, dass sie keine starke politische Vertretung haben, die sich wirkungsvoll für ihre Interessen einsetzen könnte. Die einzige Romapartei, die MCF, trat bei den letzten Parlamentswahlen 2010 wegen interner Querelen nicht an, und es darf bezweifelt werden, dass sie es in Parlament geschafft hätte.
Dort geben seit den Parlamentswahlen 2010 andere Kräfte den Ton an, von denen man sich einen rücksichts- und respektvollen Umgang mit den Roma nicht erwarten darf: Fidesz, die mit 263 Sitzen eine Zweidrittelmehrheit erreichen konnte und mit Viktor Orbán den Ministerpräsidenten stellt, und Jobbik, die mit 47 von insgesamt 386 Mandaten im ungarischen Parlament vertreten ist. Die Roma sind jedoch nicht die einzigen «Sündenböcke», die sich Fidesz und vor allem Jobbik für ihre aggressiven Kampagnen aussuchen: Da sind noch die Homosexuellen, Menschen jüdischen Glaubens sowie linke und liberale Politiker.
Die Zukunft scheint nichts Gutes für die ungarischen Roma bereit zu halten. Die Wirtschaftskrise könnte ihre Situation weiter verschlechtern, sowohl wirtschaftlich als auch in Bezug auf die gesellschaftliche Ausgrenzung. Denn wenn es Ungarn schlecht geht, dann sind sie die «Sündenböcke.»
Aljoscha Pilger studiert Politikwissenschaft an der Uni Marburg und ist Mitglied der Forschungsgruppe Europäische Integration (FEI). Weiterführende Links: http://athenaintezet.hu/en; http://pusztaranger.wordpress.com; www.pesterlloyd.net.
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