von Rainer Thormann
Der Streik in Bellinzona im Frühjahr 2008 wurde weit über die Landesgrenzen hinaus als erfolgreicher Arbeitskampf bekannt. Inzwischen hat die Belegschaft einen erneuten Angriff der Spitze der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) vorübergehend abgewehrt.
Der Kampf der Arbeiter der SBB-Werkstätten (Officine) in Bellinzona im Frühjahr 2008 geht wohl in die Geschichte ein: Nach 33 Tagen Streik und Besetzung der Werkstatt sowie einer breiten Mobilisierung von Gesellschaft und Politik erzwangen die über 400 Beschäftigten die Rücknahme der Restrukturierungspläne und somit den Erhalt der Arbeitsplätze. Die Arbeitermacht im Betrieb erreichte über die schriftlich zugesicherten Beschäftigungsgarantien bis 2013 auch die Festanstellung von rund 50 Leiharbeitern.
Die Bedürfnisse der Werkstatt in Bellinzona wurden regelmäßig an einem sog. «Runden Tisch» besprochen, an welchem nicht nur – wie sonst üblich – Gewerkschaftsfunktionäre mit der Unternehmerseite verhandelten, sondern gleichberechtigt auch das von der Arbeiterversammlung gewählte Streikkomitee. Dieser «paritätische Dialog» täuschte lange Zeit darüber hinweg, dass die wichtigen Entscheidungen anderswo gefällt wurden. Offensichtlich wurde das spätestens im November 2011, als SBB Cargo beschloss, das Arbeitsvolumen beim Unterhalt von Güterwagen ganz kurzfristig und massiv zu reduzieren. Die Nachricht schlug in Bellinzona wie eine Bombe ein.
Der Beschluss war umso überraschender, als in den letzten beiden Jahren wieder vermehrt Leiharbeiter angestellt worden waren, um die stark gestiegenen Aufträge von SBB Cargo bewältigen zu können. Es war also eigentlich ein Frontalangriff auf die Werkstatt in Bellinzona, der kurzfristig zum Abbau von rund 100 Arbeitsplätzen und später, wegen mangelnder Auslastung der Infrastruktur, zur Schließung des ganzen Werkes geführt hätte.
Als erste Antwort auf diesen Angriff verabschiedete die Belegschaftsversammlung der Officine Bellinzona am 24.11.2011 eine Resolution, worin die SBB (Schweizerischen Bundesbahnen) aufgefordert wurden, den Entscheid zurückzunehmen. Außerdem wurde ein kurzfristiges Treffen mit der SBB-Spitze verlangt sowie «die Umsetzung der Rahmenbedingungen, die erforderlich sind, damit die SBB-Werkstätten (Officine) von Bellinzona Aufträge außerhalb der SBB und von SBB Cargo annehmen können».
Um die neueste Entwicklung in Bellinzona über die Grenzen der italienischen Schweiz hinaus bekannt zumachen, übersetzte das «Netzwerk Arbeitskämpfe» diese Resolution auf Deutsch und Französisch und verbreitete sie über ihre Kanäle.
Solidarität
Innerhalb weniger Tage bekundeten verschiedene betriebliche AktivistInnen aus der Schweiz und den angrenzenden Ländern ihre Solidarität mit den Arbeitern der Officine. Einer davon war der «Aktionsausschuss 100% S-Bahn», der aus der Betriebsversammlung bei der S-Bahn Berlin vom 13.12.2011 hervorgegangen ist, um den Widerstand der Beschäftigten gegen die Pläne zur Zerschlagung und Privatisierung der Berliner S-Bahn zu bündeln und zu organisieren. «Jeder Frontalangriff auf eure Arbeitsplätze, eure Löhne und auf eure Errungenschaften aus dem Jahr 2008, die ihr euch aufopferungsvoll erkämpft habt», schreibt der Aktionsausschuss in seiner Solidaritätsbotschaft, «ist ein Angriff auf alle Beschäftigten. Somit stehen wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln an eurer Seite, wenn es gegen die Pläne der SBB Cargo und für den Erhalt der Officine geht.»
In seiner Antwort an den Aktionsausschuss und alle andern, die ihre Solidarität gezeigt haben, dankt ihnen das Streikkomitee «Giù le mani» und stellt fest: «Die Entschlossenheit der Arbeiter der SBB-Werkstätten (Officine) von Bellinzona und Eure Solidarität haben erneut Früchte getragen.» Der «Runde Tisch» vom 16.12.2011, heißt es weiter, habe ein Szenario umrissen, «worin der mutige Weg, den die Arbeiter der Officine bisher beschritten haben, fortgeführt und weiterentwickelt wird.»
Die entschlossene Haltung der Arbeiterversammlung hat sowohl die einmütige Unterstützung der regionalen Politik als auch die Aufmerksamkeit des Mediators am «Runden Tisch» bewirkt. Als konkrete Resultate dieser Dynamik nennt das Streikkomitee: «Die SBB haben einen guten Teil des Arbeitsvolumens, das SBB Cargo den Officine für 2012 wegnehmen wollte, wieder zurückgewinnen können. Unsere Zusammenarbeit mit der örtlichen Geschäftsleitung wird unter der Bedingung fortgesetzt, dass die verbleibenden Auftragsrückgänge durch den Ausbau des Entwicklungspotenzials ausgeglichen und nicht die Arbeitsplätze in den Officine bedroht werden.
Die SBB sind endlich bereit, das Organisationssystem der Officine unserer Realität anzupassen. Wir werden in der Praxis überprüfen, ob sich die örtliche Geschäftsleitung als fähig und willens erweist, gegenüber der SBB-Spitze die nötige unternehmerische Freiheit und Autonomie an den Tag zu legen, und vor allem ob sie imstande sein wird, in ihren Beziehungen zur Basis Bescheidenheit und gesunden Menschenverstand einzusetzen.»
In den ersten Monaten des Jahres 2012 soll «eine Dialogplattform definiert» werden, die «auf dem paritätischen Dialog mit der Basis und auf dem Grundsatz der Mediation aufgebaut» sein wird. Zudem wurde am 23.12.2011 die Ausschreibung für den Aufbau eines «Kompetenzzentrums für nachhaltige Mobilität» veröffentlicht, von dem «der endgültige Wiederaufschwung der Officine, hin zur Innovation und zur Konsolidierung der aktuellen Kompetenzen» abhängen werde.
Das Jahr 2012 werde darum in verschiedener Hinsicht, heißt es abschließend, ein entscheidendes Jahr für die Officine: «Vor uns haben wir einen Weg, der reich an günstigen Gelegenheiten, aber auch an Fallstricken ist. Wir wollen ihn, zusammen mit Euch allen, mit Würde und Entschlossenheit beschreiten. Jeder Schritt vorwärts in irgendeinem der Arbeiterkämpfe ist ein Sieg für alle ArbeiterInnen!»
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