Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2012
Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts, Reinbek: Rowohlt, 2011, 426 S., 19,95 Euro

von Jürgen Meier

Dieser Roman ist wahrlich keine erbauliche Lektüre für Kommunisten, die, wie die Romanfigur Kurt, vierzig Jahre der SED die Treue gehalten haben, vielleicht im besten Glauben, auf diese Weise den Sozialismus zur Entfaltung bringen zu können, vielleicht aber auch nur, weil sie zu feige waren, die Welt nicht nur nach den Direktiven des ZK zu interpretieren, sondern sie Marschen Sinne permanent verändern zu wollen. Nach flüchtiger Lektüre scheint dieses mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnete Buch nichts anderes im Sinn zu haben, als den Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus in den Dreck zu ziehen. Doch dieser Schein trügt.
Der Historiker Kurt muss sich von seinem Sohn Sascha, der über Ungarn nach Westdeutschland geflohen ist, nach dem Fall der Mauer den Vorwurf gefallen lassen, ein Feigling gewesen zu sein: «Vierzig Jahre lang hast du es nicht gewagt, über deine großartigen sowjetischen Erfahrungen zu berichten.» Er wolle dies jetzt nachholen, antwortet Kurt. Jetzt, sagt Sascha, nutzt es niemandem mehr. Was hatte Kurt verschwiegen?
Ein Mitarbeiter Kurts wurde aus der SED ausgeschlossen und verlor fristlos seinen Arbeitsplatz, weil er einem westdeutschen Historiker die Rezension eines Buches über die Einheitsfrontpolitik der KPD geschickt hatte, in der er diese als falsch kritisierte. Kurt nahm an der Vernehmung des Mitarbeiters teil. Den Leiter des Verhörs, von Kurt heimlich «Schweinsgesicht» genannt, erkennt er als jenen Mann wieder, der ihn 1941 in der Lubjanka, dem Gefängnis des Moskauer KGB, verhört hatte: «Sie haben Kritik an der Außenpolitik des Genossen Stalin geäußert», hatte ihm das «Schweinegesicht» vorgeworfen. «Anlässlich des ‹Freundschaftsvertrages› zwischen Stalin und Hitler hatte Kurt damals an Bruder Werner geschrieben, die Zukunft werde erweisen, ob es vorteilhaft sei, mit einem Verbrecher Freundschaft zu schließen», heißt es im Roman. Dafür hatte Kurt 1941 zehn Jahre Lagerhaft bekommen. Er hatte überlebt, war in die DDR zurück gekommen, hatte Irina geheiratet und deren Mutter aus Slawa (Niederschlesien) zu sich in die DDR geholt. Von ihr erfährt er, ihr Vetter habe die Kühe geschlachtet, «als die Sowjetischen» kamen, «weil es hieß, wer mehr als drei Kühe hat, wird entkulakisiert, und dann haben sie ihn trotzdem entkulakisiert, weil er die Kühe geschlachtet hat.» Der Vetter wurde erschossen.
Kurt schwieg auch, als auf dem 90.Geburtstag seines Vaters Wilhelm, der als KPD-Mitglied mit seiner Frau Charlotte vor den Faschisten nach Mexiko fliehen musste, die Partei als Wahrheitsverwalterin gepriesen wurde. «Die Wahrheit, sagte er oder wollte er sagen – der Satz, den zu bilden er im Begriff war, hätte in etwa gelautet: Die Wahrheit ist nicht etwas, das die Partei besitzt und an die Bevölkerung als eine Art Almosen austeilt.» Während Kurt schwieg, aber täglich diszipliniert an seinem Ruf des «produktivsten Historikers» der DDR arbeitete – er hatte sich eine Tagesnorm von sieben Schreibmaschinen Seiten auferlegt –, glaubte sein Vater Wilhelm stets an die Wahrheitsverkünderin, die Partei.
Kommunisten nannten sie sich beide, Vater und Sohn. Als Enkel-Sohn Sascha nach dem Scheitern der DDR zu seinem Vater sagt: «Es gibt keinen demokratischen Sozialismus», antwortet Kurt sehr energisch: «Der Sozialismus ist seinem Wesen nach demokratisch, weil diejenigen, die produzieren, selber über die Produktion...» Sascha protestiert. «Aha, sagte Kurt, darf man jetzt also nicht mehr über Alternativen zum Kapitalismus nachdenken! Wunderbar, das ist also eure Demokratie... Scheiß auf eine Gesellschaft, in der zwei Milliarden Menschen hungern ... Der Kapitalismus mordet, schrie Kurt. Der Kapitalismus vergiftet! Der Kapitalismus frisst diese Erde auf.»
Da Kurt die Romanfigur ist, die alle vier Generationen verbindet, stellt er die zentralen Fragen an den Leser. Mit denen müssen sich auch heutige Kommunisten wissenschaftlich und menschlich auseinander setzen. Denn der Roman präsentiert nicht nur eine fast unerträgliche Spießigkeit seiner DDR-Akteure, sondern historische Tatsachen, die nicht von der Hand zu weisen sind. So trifft in Mexiko Wilhelms Frau Charlotte auf Adrian, der zu ihr sagt:
«Der Kommunismus, Charlotte, ist wie der Glaube der alten Azteken: Er frisst Blut.» Slansky sei zum Tode verurteilt worden. Wer ist dieser Slansky? Der Roman erklärt es nicht. Slánsky war der Generalsekretär der KP der CSSR. Er wurde am 3.12.1952 mit zehn weiteren fast ausschließlich jüdischen Mitangeklagten gehängt. Die Angeklagten wurden auf Wunsch Stalins verurteilt, eine «trotzkistisch-titoistisch-zionistischen Verschwörung» gebildet zu haben, die den Umsturz der sozialistischen CSSR geplant hätten. Der Chefankläger war Major Smola, ein Antisemit und Bewunderer Hitlers, der u.a. auch Anna Seghers und Egon Erwin Kisch dem Verdacht aussetzte, Geheimagenten der USA zu sein.
Charlotte nimmt die Warnungen Adrians nicht zur Kenntnis, denn «erst die Kommunisten hatten ihre Talente erkannt, hatten ihre Fremdsprachenausbildung gefördert, hatten sie mit politischen Aufgaben betraut.» Immerhin wurde sie, «die nur vier Klassen der Haushaltsschule besucht hatte», Institutsleiterin für Literatur an der neuen Akademie. Als sie für das ND das Buch eines jüdischen Autors rezensiert, der im Westdeutschland der 60er noch immer den Geist des Faschismus erkennt, sich aber nach Mexiko und nicht in die DDR flüchtet, ist sie erbost und will das Buch auf die DDR-Verbotsliste setzen.
Kurt protestiert: «Es geht nicht um dieses Buch. Es geht hier um Reform oder Stillstand. Demokratisierung oder Rückkehr zum Stalinismus...» Charlotte: «Auf einmal reden alle von Stalinismus!» Kurt erwähnt in diesem Zusammenhang, der Kulturminister sei abgesetzt worden. Auch dies weist auf eine bittere Tatsache der DDR-Geschichte hin, die der Roman nicht erklärt. Das 11.Plenum des ZK der SED entließ den Kultusminister Hans Bentzien «wegen ernsthafter Fehler». An seine Stelle trat Klaus Gysi. Im Mittelpunkt des Plenums stand die Anklage gegen die Künstler der DDR. Wortführer war Erich Honecker, der den Künstlern «Nihilismus», «Skeptizismus» und «Pornografie» vorwarf. Es wurden zahlreiche Filme, Theaterstücke, Bücher und Musikgruppen verboten. Von den anwesenden Schriftstellern meldeten sich fünf zu Wort: Wolfgang Joho (Aufstand der Träumer, 1966), Anna Seghers, Kurt Barthel, Helmut Baierl und Christa Wolf, die erklärte, dass nicht die Literatur an der Unmoral der Jugend Schuld sei, sondern «eine Leere, in die unsere mangelnde geistige offensive Anziehungskraft Teile der Jugend geführt hat, durch die Hohlräume entstanden sind, in die jetzt selbstverständlich fremde, feindliche Ideologien eindringen». Dies geschah im Dezember 1965!
Ruges Roman erschien 46 Jahre später und nur wenige Monate vor dem Tod Christa Wolfs. Sollten wir ihn deshalb nicht als Hinweis auf ein Erbe akzeptieren, das gründlich und kritisch verarbeitet werden muss, um den Sozialismus als die einzige Alternative zum heutigen Imperialismus deutlicher im Hier und Jetzt wissenschaftlich als wahrhaft menschliche gestalten zu können? Das Licht des Sozialismus hat sicher gelitten, aber damit es wieder hell leuchten kann, ist ein Blick auf die Wirklichkeit von Gestern und Heute ohne Wenn und Aber notwendig.

Eugen Ruge ist Sohn des Alt-Kommunisten Wolfgang Ruge, der 1941 in das sibirische Lager 239 deportiert wurde. Ruge kam im Alter von zwei Jahren zusammen mit seinen Eltern nach Ost-Berlin, arbeitete zeitweilig als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Physik der Erde der Akademie der Wissenschaften der DDR, begann 1986 mit einer Tätigkeit als Schriftsteller, Dokumentarfilmer und Drehbuchautor. 1988 siedelte er in die BRD über. Für sein Romandebüt In Zeiten des abnehmenden Lichts erhielt er 2011 den Deutschen Buchpreis.

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