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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2012
Vom fiktiven Kapital und dem Fetischismus des Geldes

von François Chesnais

Erlaubt die Lektüre von Marx, die Krise des Finanzkapitalismus zu verstehen? Sind seine Analysen noch relevant? Beim erneuten Lesen der sechzehn Kapitel von Abschnitt 5 des dritten Bandes des Kapitals entdeckt man, wie er im Londoner Exil durch sorgfältige Beobachtung der Aktivitäten der City die mit dem «fiktiven Kapital» und dem «Fetischismus des Geldes» verbundenen Gefahren vorausgesehen hat.
Marx interessierte sich sehr für das Finanzwesen, nicht nur zum Verständnis der langfristigen Entwicklung des Kapitalismus, sondern auch als ironischer Beobachter des Londoner Schauplatzes. Schon Mitte des 19.Jahrhunderts ist London der größte Finanzmarkt der Welt. Die britischen Banken, die ihren Sitz in der Londoner City haben, vergeben bereits gewaltige Darlehen in den aufstrebenden Ländern der Epoche. Die Londoner Börse ist einer der Schauplätze, wenn nicht das Epizentrum, der ersten Fälle von Börsenpanik, wie ein Finanzkrach lange genannt wurde. Marx saß also gewissermaßen während der drei großen Finanzkrisen 1857, 1866 und 1873 in der ersten Reihe. Er hat auch gesehen, wie «ein ganzes System des Schwindels und des Betrugs mit Bezug auf Gründungen, Aktienausgabe und Aktienhandel» [MEW25:454] entstand. Die Bank und die Börse sind dabei der Motor, so sehr, dass während der Phase der finanziellen Euphorie sogar in den Ländern, in denen die industrielle Revolution entstand, der «Produktionsprozess nur als … notwendiges Übel zum Behuf des Geldmachens» erscheint. «Alle Nationen kapitalistischer Produktionsweise werden daher periodisch von einem Schwindel ergriffen, worin sie ohne die Vermittlung des Produktionsprozesses das Geldmachen vollziehen wollen» [MEW24:62].

Geldkapital und wirkliches Kapital
Was im 19.Jahrhundert nur ein periodisch wiederkehrender Rausch war, ist in den 1980er und 1990er Jahren zu einer zentralen und permanenten Systemeigenschaft der fortgeschrittenen kapitalistischen Ökonomien geworden. Die Liberalisierung des Finanzwesens, die den Beginn der neoliberalen Ära bezeichnet, hat – dank der Maßnahmen der Regierungen – der Akkumulation von zinstragendem Kapital und Geldkapital in einer Weise institutionelle und politische Grundlagen verschafft, dass die Rettung der Banken und Investitionsfonds in der Krise als kategorischer Imperativ erscheint, dem sich weder die Regierungen noch die Bevölkerungen, die die Hauptlast tragen, entziehen können.
Dabei muss man die Akkumulation von Geldkapital von der wirklichen und eigentlichen Kapitalakkumulation sorgfältig unterscheiden. Die erste beruht auf Eigentumstiteln – Aktien und öffentliche Schuldverschreibungen –, die nur potenzielle Werte auf eine gegenwärtige und zukünftige Produktion darstellen. Das zinstragende Kapital lebt von der Aufteilung der Profite. Nach marxistischer Lesart müssen Industriekapitalisten umso größeren Mehrwert aus der Arbeit ihrer Lohnempfänger pressen, je höher seine Ansprüche sind. Je mehr Anleihen der Staat aufnimmt, desto mehr entwickelt sich eine «Klasse von Staatsgläubigern, die gewisse Summen auf den Betrag der Steuern für sich vorwegzunehmen berechtigt sind» [MEW25:493]. Aufgrund der Kapitalisierung der Börsen und der Märkte, wo die Titel erworben und verkauft werden können, stellen diese Aktiva für ihre Inhaber ein Kapital dar. Es handelt sich um «fiktives» Kapital, und die Transaktionen und Spekulationen, die sich daraus auf den Finanzmärkten ergeben, verstärken diesen fiktiven Aspekt nur und nähren den Fetischismus des Geldes.

Die Spargroschenfalle
Zur Zeit, in der Marx schreibt, wachsen die Banken vor allem durch die «Depositen der Industriekapitalisten», sie sind die Schatzkammer der Unternehmen und der nicht investierten Profite. Aber es werden auch «die Geldersparnisse und das augenblicklich unbeschäftigte Geld aller Klassen bei ihnen deponiert. Kleine Summen, jede für sich unfähig, als Geldkapital zu wirken, werden zu großen Massen vereinigt und bilden so eine Geldmacht.» [MEW25:416.] Marx warnt vor der Falle des Spargroschens: «Die Sparkasse ist die goldene Kette, woran die Regierung einen großen Teil der Arbeiter hält. Es tritt nicht nur Spaltung ein zwischen dem Teil der Arbeiterklasse, der an den Sparkassen beteiligt, und dem Teil, der nicht an denselben beteiligt ist. Die Arbeiter liefern so ihren Feinden selbst Waffen in die Hand zur Erhaltung der bestehenden, sie unterjochenden Organisation der Gesellschaft.» [MEW6:545.]
Dies ist ein Punkt, der zunehmend wichtiger wird. Die Lohnabhängigen im Ruhestand, die anfänglich nur «Beiträge» in die Kassen des kapitalfinanzierten Rentensystems zahlen, werden, ohne es zu wollen, zu einem integralen Bestandteil von Mechanismen der Aneignung von Einkünften, die ihren Ursprung in der Ausbeutung der Lohnabhängigen im Arbeitsprozess haben.
Je mehr die Finanzakkumulation zunimmt, desto mehr entwickelt sich eine «Verselbständigung des Zinses [seinerzeit die Hauptform des Finanzeinkommens] gegen den Profit» [MEW25:370], desto mehr stellen sich die Eigentümer und Verwalter von Wertpapieren außerhalb der Produktion, noch bevor sie über der gesamten Gesellschaft schweben. Marx, als Leser von Balzac, sagt, in den Augen derer, die von Finanzeinkünften leben, wird es «ganz so Eigenschaft des Geldes, Wert zu schaffen, Zins abzuwerfen, wie die eines Birnbaums, Birnen zu tragen» [MEW25:405].
Kapital, das sich in dieser Illusion wiegt, herrscht heute mit zehnfacher Macht und Fähigkeit, Schaden anzurichten. Die Banken standen im Zentrum des Prozesses, der die aktuelle Krise hervorgebracht hat. Durch die Zentralisierung eines großen Teils des Geldes, das darauf aus ist, finanziell verwertet zu werden, konnten sie ihre Kreditoperationen in einer Weise ausdehnen, dass «sich alles Kapital zu verdoppeln und stellenweis zu verdreifachen [scheint] durch die verschiedne Weise, worin dasselbe Kapital oder auch nur dieselbe Schuldforderung in verschiednen Händen unter verschiednen Formen erscheint» [MEW25:488] – ein Mechanismus, der seinen Höhepunkt durch die Kartellbildung erreicht hat.
Wie ist es möglich geworden, nicht nur Regierungen, sondern auch zahllose Bürger davon zu überzeugen, dass die Banken unbedingt gerettet werden müssen? Eine große Rolle spielt dabei der weit verbreitete Fetischismus des Geldes, aber auch die starke Abhängigkeit des Kreislaufs von Produktion und Austausch vom Kredit. Deshalb laden wir zur Lektüre der Schriften von Marx über das Finanzwesen ein, insbesondere der sechzehn Kapitel, die ihm in Band III des Kapitals gewidmet sind.

Aus: «Karl Marx, l’irréductible», dem Dezember-Heft der Reihe «Hors-série. Le Monde».

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