Die letzte Ausgabe der "Geschichte der SED" (1989) sollte eine neue Sicht auf die Geschichte der KPD, besonders des kommunistischen deutschen Exils in der UdSSR werfen. Sie kam zu spät.
1986 erhielt das Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED den Auftrag, eine neue, vierbändige “Geschichte der SED” zu erarbeiten. Dem Autorenkollektiv für diese Publikation gehörten an: Ernst Diehl (Leiter), Günther Hortzschansky und Gerhard Roßmann (stellvetretende Leiter), Günter Benser, Anneliese Laschitza, Walter Schmidt, Heinz Wohlgemuth und Fredi Stumpf. 1988 erschien der Band 1 (1830 bis 1917) im Umfang von 850 Druckseiten. Die Arbeit am Band 2 (1917 bis 1945) sollte sich als wesentlich komplizierter und langwieriger gestalten. Ausschließlich davon soll hier die Rede sein.
Um es vorweg zu nehmen: Dieser Band und die folgenden wurden nicht mehr veröffentlicht. Lediglich der Band 2 und Teile des Bandes 3 liegen als Manuskriptdruck (Schreibmaschine) vor. Die Veröffentlichung der vollständigen vierbändigen Ausgabe scheiterte mit Sicherheit daran, dass Mitte 1989, als zumindest das Manuskript des Bandes 2, in einem Umfang von 1300 Seiten vorlag, die innenpolitischen Ereignisse in der DDR das nicht mehr zuließen. Dennoch ist der Text als Archivalie vorhanden (Registratur: SAPMO Barch,ZPA,DY 30/vorl SED, Büro Hager, d.h.,im Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR, Berlin). Alle folgenden Daten, Zahlen, Zitate, und Personenangaben beziehen sich auf dieses vorliegende Material.
Dennoch erfolgte relativ spät eine Reaktion auf diesen Manuskriptdruck, und wenn, dann meist nicht mit der seriösen Absicht einer sachlichen Aufarbeitung, sondern mit dem Ziel der antikommunistisch-verleumderischen Angriffe auf die DDR und ihre staatstragende Partei, die SED. Immerhin lässt selbst eine oberflächliche Betrachtung die Wertung zu, dass der Manuskriptdruck des Bandes 2 weit über die achtbändige ”Geschichte der Arbeiterbewegung(1966) und die ”Geschichte der SED (Abriss)”aus dem Jahre 1978 inhaltlich hinausging und so manches “Tabu” der Geschichte der deutschen kommunistischen Bewegung beseitigt wurde. Man geht nicht fehl in der Annahme, dass eingefleischten Antikommunisten die ganze Sache nicht in das erprobte Kalkül passte und passt – eine völlig neue Sicht auf die KPD-Geschichte, besonders bezüglich des kommunistischen deutschen Exils in der UdSSR.
Unter diesem Gesichtspunkt ist, trotz mancher Kritik am kürzlich erschienenen “ThälmannReport” (Czichon/Mahron), auf den Seiten 833 ff., den Verfassern zu danken, dass explizit dazu Stellung bezogen wurde. Nun einige Anmerkungen zum Werdegang der geplanten Publikation: In der Hausmitteilung von Kurt Hager an Erich Honecker vom 24.Mai 1989 ist zu lesen: ”Im Kapitel 5 befindet sich ein Abschnitt über die Auswirkungen des Machtmissbrauchs in der Sowjetunion auf die KPD. Wir können an diesen Ereignissen nicht vorbeigehen. Natürlich könnte man noch ausführlicher sein... Ich übermittle Dir diesen Abschnitt mit der Bitte um Durchsicht und Bestätigung.” Dabei wurden wichtige Fragen und Probleme des Kampfes der Partei, besonders im Vorfeld des 30.Januar 1933, einbezogen. So schrieb Prof.Dr.Heyden in einem Brief an Kurt Hager, zu unterstreichen wäre, dass die KPdSU und Komintern die KPD gehindert hätte, die Einheitsfront zur Abwehr des drohenden Faschismus zu gestalten.
Die Dominanz der sowjetischen und Kominternführung hätte letztlich zu strategischen Fehlern geführt, deren Folge schwerwiegende Niederlagen der KPD gewesen wären. Offensichtlich zielte die Feststellung Heydens auf die Ereignisse der Jahre 1931/32, bei denen die Moskauer Führung die deutsche Partei strikt darauf drängte, noch deutlicher als bisher die SPD zur ”sozialen Hauptstütze der Bourgeoisie “zu propagieren. Offensichtlich wurde hier auf die verhängnisvolle These vom ”Sozialfaschismus” verwiesen bzw. insgesamt auf das Jahr 1928 als Einschnitt in der Geschichte der KPD (Strategieänderung, initiiert durch den VI. Weltkongress der Komintern). Wie beurteilten nun die Autoren des Manuskripts die Repressionen gegen das kommunistische deutsche Exil in der UdSSR, besonders in den 30er Jahren? An dieser Stelle sollen einige Textpassagen des geplanten Bandes 2 zitiert werden: “Alle, die früher einmal oppositionellen Gruppierungen in der kommunistischen Bewegung angehört hatten, ob sie mit dieser Vergangenheit gebrochen hatten oder nicht, wurden als Feinde des Sozialismus und der Sowjetunion abgestempelt. Dieser Vorwurf diente zur Begründung härtester Strafen. Machtmissbrauch und Missachtung der sowjetischen Gesetzlichkeit durch staatliche Organe und vor allem die durch Stalin, Jeshow und Berija eingesetzte “Außerordentliche Kommission” wurden zur verbrecherischen Praxis, die sich in Massenrepressalien, im spurlosen Verschwinden von Bürgern, in Erschießungen,in der Einweisung in Straflager, in Verbannung äußerten. ”Weiter heißt es im Manuskript, dass “elementare Regeln gerichtlichen Vorgehens außer Kraft gesetzt” wurden und die ”Betroffenenen völlig wehrlos waren... Auch gegen deutsche Kommunisten wurden Todesurteile ausgesprochen und vollstreckt; Angehörige, Frauen und selbst Kinder waren Repressalien ausgesetzt.” Auch das schier Unfassbare sollte in der neuen Parteigeschichte endlich auf den Tisch: ”Anfang 1940 schoben sowjetische Organe deutsche und ehemalige österreichische Staatsbürger nach Deutschland ab. ”Jeder weiß, was das bedeutete. Das Land, in das alle Hoffnungen gesetzt worden waren und die existentielle Rettung vor dem faschistischen Regime erhofft wurde, übergab der Gestapo am Grenzübergang, was fast immer die Einlieferung in ein KZ und oft den Tod bedeuteten. Insgesamt betraf das ca. 400 meist kommunistische Antifaschisten. Der Manuskripttext führt einige Namen von Exilanten auf, die in der UdSSR ermordet wurden: Mitbegründer der KPD (Willi Budich, Hugo Eberlein, Werner Hirsch), ehemalige Mitglieder des Politbüros der KPD (Hermann Remmele, Heinz Neumann, Leo Flieg, Artur Golke), Mitglieder des ZK der Partei (Hermann Schubert, Fritz Schulte, Hans Kippenberger (Chef des Militärapparates der KPD), Willi Löw (2.Bundesvorsitzender des RFB), Abteilungsleiter des ZK sowie Redakteure (August Creutzburg, Heinrich Meyer, Hans Knodt, Kurt Sauerland, Heinrich Süßkind) sowie aktive Parteiarbeiter (Erich Birkenheuer, Hans Günther, Erich Kunik, Johannes Skellerup, Karl Schmückle, Walter Dittbender, Felix Halle, Willi Koska, Johannes Ludwig und Erich Steffen. Würdig gedacht sollte, laut Text, auch denen, die lange Haftstrafen durchlitten hatten und dennoch überlebten (Roberta Gropper, Bernhardt Koenen, Hans Mahle und Paul Schwank). Ich möchte nochmals unterstreichen, dass diese Namen im Manuskript aufgeführt werden – eine große Zahl und dennoch nur ein Teil, denn auch die kommunistischen Exilanten der anderen Nationen wurden durch die ”Säuberungen” erfasst. Besonders hart traf es die KP Polens, die durch einen EKKI-Beschluss aufgelöst wurde. Viele ihrer Mitglieder fielen dem Terror zum Opfer. Der Schaden für den Widerstandskampf gegen die deutschen Okkupanten war groß. Immerhin existierte von 1938 bis 1941/42 in Polen keine kommunistische Partei. Von den ca. 4600 deutschen Kommunisten in der UdSSR waren ca. 70 % von den Repressionen betroffen. Unter Bezugnahme auf einen Brief Wilhelm Piecks an Dimitri Manuilski, so im Text weiter, hätten führende KPD-Funktionäre versucht, ”helfend einzugreifen”, d.h., Widerspruch gegen die Repressalien zugunsten der Betroffenen einzulegen, obwohl sie selbst immer in Gefahr waren, selbst Opfer zu werden.
Am 25.Mai 1989 setzte Erich Honecker folgenden Vermerk unter den Manuskripttext: ”Einverstanden mit Seite 1-1300.” D.h.,er bestätigte den gesamten Text des Bandes 2 der ”Geschichte der SED”.
Dieser Band konnte nicht mehr veröffentlicht werden. Die Umstände, die das zur Ursache hatten, sind bekannt. Mit Sicherheit hätte eine Publizierung für viel Aufsehen gesorgt. So bleibt nur die Feststellung unwiderruflich bestehen, dass beim Neubeginn 1945 bis zum Ende der DDR das Schicksal der deutschen kommunistischen Emigranten in der Sowjetunion ein Tabu blieb. Dieser Fehlansatz in der Politik der SED und DDR entbehrt nicht der historischen Tragik, denn dieser hatte Langzeitwirkung – eine Zeitbombe, die zu keinem Zeitpunkt entschärft wurde und die antifaschistisch-demokratische Alternative von Anfang an existentiell gefährdete. Es zeigte sich, dass die beträchtlichen sozialökonomischen Veränderungen offensichtlich nicht ausreichten, gesicherte demokratische Verhältnisse, bis in die SED hinein, sozusagen automatisch, entstehen zu lassen. Ich übersehe dabei nicht, dass das Aufdecken des Verbrechens am deutschen Antifaschismus ein sehr schwerer Weg gewesen wäre, eingedenk der Omnipotenz der sowjetischen Besatzungsmacht und der politischen Rolle der UdSSR, auch nach 1949, 1953, 1956 und 1961 (und darüber hinaus). Und dennoch gab es, wenn auch eingeschränkt, Möglichkeiten der Korrektur des Geschichtsbildes (Offenlegung der “Geschichte, wie sie war”) von der deutschen kommunistischen Bewegung und davon ausgehend, Möglichkeiten einer entsprechenden Geschichtspolitik, besonders seit Mitte der 80er Jahre. Natürlich gab es kein Gesetz, das ein Sprechen über die Vorgänge in der UdSSR seitens der Remigranten verbot. Und dennoch geschah es. Man schwieg aus Scham, aus der ”Furcht, dem Feind Argumente zu liefern”, auch aus der Befürchtung, berufliche und soziale Nachteile hinnehmen zu müssen. Die Remigration erfolgte sehr zögerlich.1945 konnten zunächst nur 30 Personen in die SBZ zurückkehren. Erst nach Stalins Tod (1953) wurden die Unrechtsurteile überprüft und eine Rückkehr ermöglicht. Die meisten konnten zwischen 1954 und Anfang der 60er Jahre die UdSSR verlassen. Inzwischen liegen eine ganze Anzahl von Autobiographien und Erlebnisberichten über ihre Erlebnisse und Schicksale vor. Nach 1990 erschienen die ersten Publikationen, z.B.:”Totgesagt” (Trude Richter), ”Lästige Zeugen?” (Elfriede Brüning, TB-Protokolle) und ”Unter falscher Anschuldigung.18 Jahre in Taiga und Steppe” (Helmut Damarius). Vorher erschienene diesbezügliche Publikationen nahmen nicht zum UdSSR-Exil Stellung bzw. konnten es nicht.
Jedem, dem der Sozialismus mehr als ein Lippenbekenntnis ist, muss es Herzenssache sein, aufrichtiges Mitfühlen, auch Zorn, zu empfinden, wenn er vom Leben (oder Tod) der deutschen Kommunisten in der UdSSR erfährt.
Der Autor ist promovierter Historiker.
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