Serie zur Schuldenkrise I
von Ingo Schmidt
Wenn in den Medien von Schuldenkrise die Rede ist, geht es fast immer um Staatsschulden. Tatsache ist aber, dass die Schulden privater Haushalte und Unternehmen in den meisten Ländern mindestens ebenso hoch oder sogar höher sind als die öffentlichen Schulden.
In dieser Ausgabe der SoZ beginnen wir eine Artikelserie, in der erklärt wird, worin das Problem mit den Schulden besteht und weshalb der Kreditboom vergangener Jahre und Jahrzehnte zu einer internationalen Kreditkrise geführt hat. Weiterhin wird gezeigt, dass die Schulden dieser Welt niemals zurückgezahlt werden können, dass Versuche in dieser Richtung zu einer Vertiefung der allgemeinen Wirtschaftskrise führen werden und eine Vergesellschaftung des Finanzsektors ein notwendiger, wenngleich unzureichender Schritt zur Überwindung der Kredit- und Wirtschaftskrise ist.
Staatsschulden sind ein Problem…
Am Anfang war die Immobilienkrise. Damals, 2006/07, konnte eine zunehmende Zahl amerikanischer Haushalte am unteren Ende der Einkommenspyramide ihre Hypothekenschulden nicht mehr bedienen. Im Sommer 2008 waren die Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac zahlungsunfähig und konnten nur durch öffentliche Gelder vor der Pleite gerettet werden. Die Immobilienkrise führte sehr schnell zum Börsenkrach und zu einer allgemeinen Wirtschaftskrise. Um einen Zusammenbruch des Zahlungsverkehrs und Wirtschaftskreislaufs zu verhindern, wurden dem Finanzsektor in großem Umfang öffentliche Gelder zugeführt und Konjunkturprogramme aufgelegt.
Finanziert wurden diese staatlichen Rettungsaktionen von privaten Kreditgebern. Seither sind diese von der Angst geplagt, die öffentliche Kreditnehmer könnten in den gleichen Zahlungsschwierigkeiten enden wie private Schuldner vor und auch noch nach Ausbruch der Wirtschaftskrise.
Wenn nach privaten Haushalten und Unternehmen der Staat als Kreditnehmer ausfällt, wird es eng für die Besitzer von Geldvermögen. Was sollen sie tun, wenn alle, die einen Kredit aufnehmen wollen, ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht werden zurückzahlen können? Und wenn diejenigen, die zahlen könnten, keinen Kredit brauchen, weil sie selber auf der Suche nach rentablen und sicheren Geldanlagen sind?
Von solchen Sorgen können die meisten Menschen freilich nur träumen. Sie plagt vielmehr die Angst, die nächste Sparrunde könnte sie den Job, das Arbeitslosengeld oder die Rente kosten. Auch unter ihnen gibt es viele, die in ausufernden Staatsfinanzen die Ursache ihrer Probleme sehen und einen Tritt auf die Schuldenbremse befürworten. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Staatsschulden als Folge von Subventionen an den Finanzsektor aufgelaufen sind oder wegen großzügiger Unterstützung der Sozialversicherungen oder öffentlicher Dienstleistungen.
Wenn sich bei den oberen Zehntausend nichts holen lässt, die vom Sparen ohnehin nichts merken, findet sich auf der sozialen Leiter unter mir immer noch jemand, bei dem sich sparen lässt, ohne mir weh zu tun. Von der Diagnose der Staatsschuldenkrise über den Sparzwang führt ein direkter Weg zur Entsolidarisierung unter denen, die wenig oder gar nichts haben. Die Geldgesellschaft frisst ihre Kinder. Wer bei diesem Fressen nicht mitmachen will, tut gut daran, die Schuldenkrise aus einer anderen Perspektive zu betrachten und von dort aus solidarische Ansätze zu ihrer Lösung zu entwickeln.
…private Schulden aber auch
Die nackten Zahlen wirken dramatisch: 2009 betrug der Anteil der öffentlichen Schulden am Bruttoinlandsprodukt in Deutschland 73%, in den USA 67%, in Japan 197%, in Großbritannien dagegen bescheidene 59%. Mit anderen Worten: Würden die Briten 59% ihres Inlandsprodukts in die Schuldentilgung stecken und ihren privaten Konsum, Investitionen und Staatsausgaben entsprechend zurückfahren, wären sie innerhalb eines Jahres schuldenfrei. Japan bräuchte zwei Jahre Nulldiät, um dahin zu kommen. Ein Ding der Unmöglichkeit.
Die Zahlen für den privaten Sektor sind nicht weniger dramatisch: Ausgerechnet die als sparsam geltenden Schweizer haben private Haushaltsschulden in Höhe von 118% des Bruttoinlandsprodukts aufgetürmt und liegen damit weit vor den Amerikanern (97%). Der britische Finanzsektor bringt es auf 194%, die spanischen Unternehmen außerhalb des Finanzsektors stehen mit 141% in der Kreide.
Solche Zahlen relativieren die griechischen Staatsschulden ganz erheblich. Diese lagen 2009, vor Ausbruch der Schuldenkrise, bei 127% und sind unter dem Druck der Sparauflagen von EU, EZB und IWF auf 158% im vergangenen Jahr angestiegen.
Ein echter Hammer sind allerdings die Gesamtschulden: also die addierten Schulden der öffentlichen und privaten Haushalte, der Unternehmen und des Finanzsektors. Zählt man all diese zusammen, liegt Japan mit 471% vor Großbritannien (466%) an der Spitze, die USA bringen es auf 296%, Deutschland auf 286%. Reichlich viel für ein Land, dessen Politiker sich im Ausland als Sparkommissare aufspielen. Die Russen mit ihren 71% könnten diese Rolle viel glaubhafter spielen.
So beeindruckend solche Zahlen auch wirken mögen, so erklären sie doch nicht, wo bei den Schulden das Problem liegt. Weil jeder Schuld ein Vermögen gegenübersteht, könnte man die angeführten Zahlen ebenso gut als Bestandteil des Geldvermögens im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt ansehen – oder etwa nicht?
Der Schuldenberg ist zu hoch
Zunächst einmal: Kredite gehören ebenso zum kapitalistischen Geschäft wie die Beschaffung von Arbeitskräften, Rohstoffen und anderen Produktionsmitteln. Diese Dinge müssen oft bezahlt werden, bevor eine Ware produziert, geschweige denn verkauft ist. Wenn die eigenen Finanzreserven nicht ausreichen, erfolgt die Finanzierung des Geschäftsbetriebs durch Kreditvergabe oder den Verkauf von Unternehmensanteilen.
Sofern der erwartete Umsatz realisiert werden kann und die Kosten nicht aus dem Ruder laufen, lassen sich solche Kredite auch ohne größere Probleme bedienen bzw. Dividenden an die Käufer von Unternehmensanteilen zahlen. Eng wird es allerdings, wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind.
Wenn der Absatz dauerhaft stockt und die Kosten nicht gedrückt werden können, frisst der Schuldendienst die letzten Geldmittel auf. Danach folgt der Gang zum Konkursrichter. Es drohen dann sozialer Abstieg und individuelle Proletarisierung, die in der Geschichte des Kapitalismus so viele Handwerker und Bauern aus der Selbstständigkeit ins Proletariat befördert hat.
Im Zuge der amerikanischen Immobilienkrise erlebten viele Arbeiterhaushalte, die glaubten, sich mit ihren Häuschen den sozialen Aufstieg in die Mittelklasse erkauft zu haben, ihre Reproletarisierung.
Die Streichung von Renten und Arbeitslosenunterstützung im Zuge der allgemeinen Wirtschaftskrise erzeugt ähnliche Effekte rund um die Erde. Kredite bzw. Schulden gehören also nicht nur zum Geschäft, sie tragen auch zur Aufrechterhaltung bzw. – in einer Krise – zur Vertiefung der Klassenspaltung zwischen Proletariern und Kapitalisten bei.
All dies stört die Kapitalisten wenig. Für sie fangen die Probleme erst an, wenn sich herausstellt, dass sie einen Teil ihrer Vermögen abschreiben müssen, weil sie die ausstehenden Zinsen – von der Tilgung ganz zu schweigen – nicht eintreiben können. Dieser Fall tritt ein, wenn die Geldvermögen und die damit verbundenen Kreditausleihungen schneller wachsen als das Bruttoinlandsprodukt, aus dem der anstehende Schuldendienst geleistet werden muss. Genau dies war seit den frühen 80er Jahren der Fall.
Ideologisch hat der Neoliberalismus seinen Siegeszug im Namen solider Finanzen angetreten, praktisch aber liefen die Schulden dem realen Wirtschaftswachstum davon. 1980 lag die japanische Gesamtverschuldung bei 244%, die amerikanische bei 154%. Das ist nicht wenig, aber doch nichts im Vergleich zu den mittlerweile erreichten 471% bzw. 296%.
Von den 80er Jahren bis heute hat ein Kreditboom stattgefunden, der den Anteil der Schulden an der Wirtschaftsleistung verdoppelt hat. Deren absolute Beträge liegen längst jenseits der Zahlungsfähigkeit der jeweiligen Schuldner. Das hat schließlich zur Kreditkrise geführt.
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