Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2012
Interview mit Gáspár Miklós Tamás über die Lage in Ungarn

Gáspár Miklós Tamás gehörte in den 80er Jahren zu den führenden intellektuellen Dissidenten Ungarns. Heute ist er einer der profiliertesten Vertreter der ungarischen Linken, er sprach am 2.Januar 2012 auf der Protestkundgebung gegen die Regierung Orbán.

Was sagen Sie zu den aktuellen Vorkommnissen in Ungarn?

Da kombinieren sich viele Dinge. Das größte Paradox ist, dass diese Regierung gegen das internationale Kapital kämpft, um das Recht zu haben, souverän und unabhängig dieselbe Politik zu betreiben, die von eben diesem Kapital verlangt wird. Der soziale und ökonomische Gehalt der Regierung Orbán ist neoliberal: Einheitssteuer, Schwerpunkt auf den Interessen der Mittelklassen, Ende der Sozialhilfe usw. All dies ist sehr orthodox und neoliberal. Aber die Regierung besteht darauf, es auf ihre eigene Weise zu tun und vor allem die Macht über die ungarische Gesellschaft unteilbar und vollkommen ohne ausländische Einmischung auszuüben. Für einige ausländische Beobachter ist Orbán ein europäischer Chávez. Aber das ist er absolut nicht! Die Politik Orbáns ist sehr konservativ und bürgerlich.

Es gibt eine Wiederkehr des Typs Thatcher aus der ersten Periode, der traditionellen Werte – die Verfassung verbietet die Schwulenehe – und andere Dinge, von denen die internationale Presse wenig spricht: massive Angriffe auf die Gewerkschaften und die sozialen Rechte. Es ist unmöglich zu streiken, die Vorrechte der Gewerkschaften sind abgeschafft, zahllose gewerkschaftliche Hauptamtliche haben ihren Job verloren.

Das ist die Einführung eines autoritären Staates, ich möchte es nicht Diktatur nennen, alle staatlichen Institutionen werden direkt von der Exekutive geleitet.

Wir sind hier in Mitteleuropa, wo die Kultur zumindest eine symbolische Bedeutung hat. Trotzdem sind wir Zeuge eines außergewöhnlichen Angriffs auf die «Intelligenz»: auf die Philosophen, das Theater, den ungarischen Film, der abgeschafft wurde – er war weitgehend staatlich gefördert wie in Frankreich oder Italien, aber im letzten Jahr gab es keinen Forint für das ungarische Kino. Gestrichen wurden die Subventionen für das Budapest Festival Orchester, das beste Symphonieorchester des Landes.

Der Angriff richtet sich gegen die Forschung, gegen die Universitäten, gegen die Schulbildung, die jetzt unter die Kontrolle der katholischen Kirche gerät… Es ist eine Rundum-Attacke gegen jede Autonomie.

 

Alles, was Sie beschreiben, ist innerhalb von anderthalb Jahren geschehen. Wie konnte die Regierung so schnell diese ganzen Änderungen durchführen?

Weil sie vor den Wahlen ihr ganzes Programm geheim gehalten hat. Das war für mich, der ich das politische Leben aufmerksam beobachte, eine totale Überraschung. Niemand war darauf vorbereitet. Die Zwei-Drittel-Regelung (für Verfassungsänderungen) war eingeführt worden, um eine Form von Konsens zu schaffen. Aber die FIDESZ, die Partei Orbáns, hat diese Macht auf sehr plumpe Weise benutzt. Zuerst setzte sie 17 Verfassungsänderungen durch, dann eine neue Verfassung.

Auch die Gesetzgebung erhält eine neue Form. Die wichtigsten Gesetze werden von einzelnen Abgeordneten der FIDESZ vorgelegt und nicht von der Regierung, das erlaubt, sie viel schneller und ohne Debatte zu beschließen. Unter diesen Bedingungen kann ein Gesetz in zehn Minuten abgestimmt werden. Diese Abgeordneten präsentieren von einem Tag auf den anderen Gesetze von 130 Seiten Umfang. Es scheint, dass die FIDESZ diese Gesetze schon vorbereitet im Gepäck hatte, als sie an die Macht kam – und dass niemand die nötige Zeit hatte, sie zu prüfen, bevor sie dem Parlament vorgelegt wurden.

In den Provinzen informiert sich die Mehrheit der Bevölkerung über zwei Medien: das öffentliche Fernsehen und das staatliche Radio, die zuvor recht gut waren. Beide Medien wurden vollständig entpolitisiert. Die Zensur und die Macht der Regierung über die Medien wird nicht für Propaganda genutzt, sondern um nichts zu sagen. Die Veränderungen bereiten sich somit im Verborgenen vor. 80% der Bevölkerung haben keine Vorstellung von dem, was geschieht. Nur die junge Mittelschicht verfolgt es durch das Internet.

Dieses Handeln im Verborgenen und die Geschwindigkeit, mit der die Gesetzesänderungen verabschiedet wurden, haben viele Leute, auch die Gegner der Regierung, desorientiert. Wenn die Regierungssprecher jammern, sie könnten die ausländischen Angriffe gegen Ungarn nicht verstehen, stimmen viele Leute zu, denn sie haben nicht gesehen, was passiert ist. Dasselbe gilt für die Krise: Die Menschen haben das vage Gefühl, dass die Dinge schief laufen, aber sie begreifen nicht viel von dem, was abläuft. Das schränkt die Entwicklung, Kraft und Wirkung der Protestbewegungen offensichtlich ein. Die haben in Budapest unter Akademikern und besser informierten Leuten Fuß gefasst, oder unter gebildeten Rentnern, die die Zeit haben, sich zu informieren.

 

Sie sagen, diese Regierung ist keine Diktatur. Wie bezeichnen Sie das von Orbán errichtete Regime?

Es ist kein Polizeistaat. Die Leute werden nicht umgebracht. Es gibt keinen offenen Zwang. Es gibt auch keine politische Mobilisierung der Mehrheit – bis jetzt, aber das kann sich ändern, denn die Regierung organisiert am 21.Januar ihre erste Demonstration zur Unterstützung ihrer Politik.

Dennoch entlässt sie Tausende Intellektuelle, vor allem in den Medien, an den Hochschulen, in der Forschung und im Kulturbereich. Das ist nicht immer sichtbar. Wenn ein berühmter Maler einer Gemeinde eine Ausstellung vorschlägt, sagt man ihm, jetzt ist nicht der Moment dafür da und es wird nicht finanziert. Das ist kein Terror, aber es verurteilt die Leute zur Ohnmacht. All dies ist ziemlich subtil. Alles Geld, das früher in Kultur und Bildung floss, kommt jetzt dem Sport zugute – oder einer gewissen Militarisierung.

Alle gewählten kommunalen Organe wurden durch eine Verwaltung ersetzt, die von der Zentralmacht ernannt wird. Das ganze System der Kommunalverwaltung wurde geändert. Die Provinzen werden bald ebenso streng kontrolliert wie früher von der Kirche, dem Gendarmen oder dem Zivilgouverneur. Dieses System ist für uns neu. Wir hatten ein ähnliches System wie Polen, in dem der örtliche Adel eine gewisse Macht besaß. Damit ist Schluss. Es wird alles zentralisiert. Der Staat ist weiterhin der wichtigste Arbeitgeber, und deshalb haben die Leute Angst zu protestieren.

 

Werfen Sie dem restlichen Europa vor, dass es nichts gesehen hat oder bis jetzt nichts sehen wollte?

Das Problem ist, dass die Intervention der Finanzinstitutionen oder der EU nicht demokratisch ist. Der IWF und die Europäische Kommission sind nicht gewählt. Wenn zu einer antidemokratischen Macht ein Gegengewicht geschaffen wird, das ebensowenig demokratisch ist, ist davon nicht viel zu erwarten. Selbst wenn es die einzige Möglichkeit wäre, die Regierung Orbán zu beseitigen, bin ich davon nicht begeistert. Es würde sicher zu einer Welle von Nationalismus führen.

Die staatliche Propaganda jammert, dass «die Ausländer uns angreifen». Die rechte Zeitung Magyar Nenzet veröffentlicht detailliert die gesamte westliche Kritik an der Regierung, und zwar um ihren Lesern zu zeigen, dass wir allein sind und von allen Seiten angegriffen werden.

 

Was macht die Opposition gegen Orbán?

Die Hauptkraft der Opposition ist die sozialdemokratische MSZP (Ungarische Sozialistische Partei), aber sie ist so unpopulär, dass sie keine Chance hat. Zur Schaffung einer neuen politischen Kraft braucht man viel Geld und Zeit. Gegenwärtig gibt es in der Opposition keine charismatische Figur. Es gibt eine taube, aber desorganisierte Energie.

Die einzige organisierte Kraft der Opposition ist die extreme Rechte. Aber auch sie hat ziemlich begrenzt Einfluss, denn sie verwendet eine sehr spezifische Rhetorik. Sie spricht wirklich die Sprache des Faschismus, was für den größten Teil der Menschen ungewöhnlich ist. Wenn sie sich auf einen patriotischen, leicht rassistischen Populismus beschränken würde, könnte die Bevölkerung ihn annehmen, aber sie spricht von der geheiligten Monarchie. Sie ist eine Sekte. Wenn sie gegen die Roma hetzt, wird es akzeptiert, aber wenn sie ihre wirklichen Ideen darlegt, zucken die Leute mit den Schultern. Es wäre eine große Katastrophe, wenn sie an die Macht käme.

 

Glauben Sie, dass diese Opposition trotz der Mobilisierungen, die wir gesehen haben, immer noch sehr schwach ist?

Sicher ist, dass die Regierung bereits unpopulär ist. Aber diese Unzufriedenheit ist teilweise unpolitisch und auch antipolitisch. Die Mehrheit der Enttäuschten wendet sich dem Privatleben zu und schweigt. Die Leute haben Angst vor Kälte und Hunger. Große Armut macht Widerstand nicht leichter. Rumänien hat dreißig Jahre unter Ceausescu verbracht: In der Zeit der größten Armut waren die Menschen am ruhigsten.

Trotzdem sind die Kundgebungen der Opposition psychologisch wichtig. Sie drücken die Meinung der Minderheit aus, die sich noch mit öffentlichen Fragen beschäftigt. Ich würde nicht sagen, dass die Opposition schwach ist, vor allem in Osteuropa, wo der Aktivitätsgrad sehr niedrig ist. Verglichen mit dem politischen Aktivitätsgrad unserer jüngeren Vergangenheit ist es nichts. Aber man soll diese Anfänge politischer Aktivität nicht geringschätzen. Ihr politischer Einfluss ist schwach, aber ihre inspirierende Kraft, ihr Einfluss auf die Stimmung der Menschen ist ziemlich bedeutend. Sie drückt die Meinung derer aus, die noch nicht jede Hoffnung verloren haben.

 

Alles, was Sie beschreiben, ist sehr alarmierend, und dennoch sind Sie weit davon entfernt, es als Faschismus zu bezeichnen, mir scheint, Sie sind sehr moderat…

Faschistische Staaten regierten mit Dekreten. Was wir heute haben, ist ein Staat der autoritären Rechten. Die Gesetze sind öffentlich und veröffentlicht; das Verfahren wird eingehalten, auch wenn es übers Knie gebrochen wird. Es gibt eine Opposition… Zugleich gibt es Elemente, die an den Korporatismus der extremen Rechten der Zwischenkriegszeit erinnert. Ein wenig Pétain, ein wenig Salazar, ein wenig Dollfuss. Wie unter Pétain verschwindet das Wort Republik. Das ist bezeichnend.

Ein anderes Beispiel: Man hat den Rooseveltplatz umbenannt, wo sich die Akademie der Wissenschaften, mein Arbeitgeber, befindet. Wir haben vom Präsidenten der Akademie, der diese Namensänderung initiiert hatte, Erklärungen verlangt. Er hat uns geantwortet, was für ein bedeutender Politiker Roosevelt auch war, so war er auch einer der Führer der Koalition unserer Feinde! Es ist ziemlich selten, dies heute zu hören… Damals war unser Verbündeter das Dritte Reich, und unsere Feinde waren die USA? Es gibt schon keinen Moskauplatz mehr, auch keinen Platz der Republik (umbenannt in Papst-Johannes-Paul-II.-Platz)…

In einer berühmt gewordenen Rede hat Orbán vor seiner Wahl erklärt, es werde einen Raum der zentralen Kräfte geben, in dem die grundlegenden Werte des Landes definiert würden. Man könne das kritisieren, aber diese Regierung werde nicht mit Leuten diskutieren, die nicht in der großen Tradition des Christentums, der Ordnung, der Arbeit, der Familie stehen. Definitiv: Arbeit, Familie, Vaterland!

Orbán hat damit das Ende der Gesellschaft der Umverteilung und der sozialen Fürsorge verkündet. Jetzt gründet sich unsere Gesellschaft auf rechtschaffene Arbeit, sagt er. Wie das Frankreich, das früh aufsteht, wie unser «geliebter Landsmann» dort sagt [eine Anspielung auf Sarkozys ungarische Herkunft]. Bei Sarkozy ist es ein Witz. Aber bei uns wurden die sozialen Leistungen drastisch gekürzt, nicht aus wirtschaftlicher Notwendigkeit, sondern aus Prinzip.

 

Wie kann Ungarn da rauskommen?

Durch Kampf, nicht anders. Keine Kompromisse! Wenn die Opposition keine Zwei-Drittel-Mehrheit erreicht, muss sie mit den Institutionen leben, die Orbán geschaffen hat, und mit deren Vertretern, die für neun oder zwölf Jahre ernannt worden sind. Eine neue Regierung wäre überdies eine Koalition aus drei oder vier Parteien und deshalb ziemlich fragil, mit einem Staat, der sich gegen sie richtet.

Selbst wenn die Opposition gewinnt, kann sie rasch stürzen. Einige Gesandte der Regierung in den Provinzen sind fast auf Lebenszeit ernannt. Der Generalstaatsanwalt hat gewaltige Machtbefugnisse. Jetzt wurde er für neun Jahre ernannt, aber wenn sein Nachfolger keine Zwei-Drittel-Mehrheit erreicht, wird er lebenslang auf seinem Posten bleiben. Das ist unglaublich! 93% der Gemeindeverwaltungen haben eine rechte Mehrheit. Selbst in Budapest, das eine Stadt der Linken war, hat von 23 Distrikten nur einer einen sozialdemokratischen Bürgermeister. Sogar während des Krieges, als die Faschisten an der Regierung waren, gab es liberale oder sozialdemokratische Bürgermeister.

 

Tragisch ist, dass Orbáns Hauptgegner der IWF und die EU sind…

Ich glaube, wenn die Regierung bereit wäre, ihre Finanzpolitik ein wenig zu ändern und ihre Gesetze umzuformulieren, würde die EU sie in Frieden lassen. Aber ich bin nicht sicher, ob die Regierung Orbán dazu bereit wäre. In einem solchen Staat ist alles, was auch nur wie eine Niederlage aussieht, gefährlich. Der Führer muss immer siegen! Und wenn sie Bankrott macht, wird sie die verdammten Ausländer beschuldigen. Es gibt schon eine Kapitalflucht, es herrscht Panik.

Aus: Viento Sur, marxistische Zweimonatszeitschrift aus Madrid, die der Organisation Izquierda Anticapitalista nahesteht. www.vientosur.info

 

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