Ein lohnendes Vergnügen
von Andreas Bodden
Dies ist ein völlig subjektiver Bericht von der Berlinale 2012. Ich bin als ganz normaler Besucher nach Berlin gefahren und habe mich in die lange Schlange am Kartenschalter angestellt. Mal hatte ich Glück und bekam die Karten für die Filme, auf die ich scharf war, mal hatte ich Pech und die Vorstellung war bereits ausverkauft. So gelang es mir nicht, Karten für den Film Aujour d’hui des senegalesischen Regisseurs Alain Gomis zu ergattern.
Dieser lief – für eine afrikanische Produktion erstaunlich – sogar im Wettbewerb. Auch die Dokumentation Blut muss fließen – Undercover unter Nazis von Peter Ohlendorf war bereits ausverkauft, als ich den Kartenschalter erreichte. Andere interessante Filme passten entweder nicht in meinen Zeitplan, oder ich übersah sie in der Fülle des Angebots, oder ich merkte, dass ich nach drei oder vier Filmen an einem Tag nicht mehr aufnahmefähig war. Einmal habe ich auch schlicht verschlafen. Wer geht auch schon morgens um halb 10 ins Kino?
Trotzdem gelang es mir, in neun Tagen 20 überwiegend gute Filme zu sehen. Bei meiner Auswahl verzichtete ich weitgehend auf die Filme des Wettbewerbs und konzentrierte mich auf das Forum, das Panorama und die Retrospektive. Ausgesprochenen Kinojunkies und Filmfreaks kann ich den Besuch dieses Filmfestivals als alternative Urlaubsidee nur wärmstens empfehlen. Es gibt jedoch einen Wermutstropfen bei der Berlinale, das ist die klotzige Architektur des Potsdamer Platzes, die für mich nur schwer zu ertragen war. Da half nur die schnelle Flucht in das heimelige Dunkel des Kinosaals.
Die innerafrikanische Migration
Aujour d’hui hatte ich verpasst, aber es gab noch zwei weitere Filme aus dem subsaharischen Afrika. Den burkinischen Film Espoir Voyage und aus Südafrika Man On Ground. Als ehemaliger Mitarbeiter des Kölner Afrika-Filmfestivals Jenseits von Europa war ich an diesen besonders interessiert.
Espoir Voyage ist ein Dokumentarfilm, der die Arbeitsmigration aus Burkina Faso in die Elfenbeinküste als Hintergrund hat. Der Regisseur Michel K. Zongo begibt sich auf den Spuren seines Bruders in das Nachbarland, dessen «Reichtum» große Kaffee- und Kakaoplantagen sind. Im Gegensatz zu den meisten Burkinern fand Joanny Zongo einen bescheidenen Wohlstand in der Elfenbeinküste, starb dann aber jung an Malaria. Der Film ist eine eindrucksvolle Schilderung der Migration zwischen afrikanischen Ländern. Während Europa sich ängstlich nach Süden abschottet, sind zwischen den Ländern Afrikas mehr Menschen unterwegs, als nach Europa wollen. Dabei finden auch innerhalb Afrikas die Menschen nicht immer das, was sie gesucht haben.
Der Spielfilm Man On Ground thematisiert ebenfalls die innerafrikanische Migration. Femi ist aus politischen Gründen von Nigeria nach Südafrika geflohen. Dort wird er Opfer der ausländerfeindlichen Pogrome, die 2008 das Land erschüttern. Der Film ist der Erinnerung an Ernesto Nhamuave gewidmet, ein Mosambiker, der 2008 ermordet wurde. Regisseur Akin Omotoso sagte nach der Filmvorführung, es sei besonders beschämend, dass Bürgerinnen und Bürger solcher Länder Opfer von Ausschreitungen wurden, die Südafrika im Kampf gegen die Apartheid unterstützt hatten. In einem sympathischen Appell forderte er das Publikum auf, noch besser im Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zu werden, und zwar nicht nur in Afrika, sondern auch und vor allem in Europa und überall sonst auf der Welt.
Genua und Occupy
Erinnert sich noch jemand an Genua 2001? 300000 Menschen demonstrierten damals gegen den G8-Gipfel. Nach hoffnungsvollem Beginn endeten die Proteste in einem Exzess von Polizeibrutalität. Kurz danach folgten die Anschläge vom 11.September 2001 in New York, und die Erinnerung an Genua wurde schnell von 9/11 und seinen Folgen verdrängt.
Zehn Jahre später schafften es immerhin zwei Filme ins Panorama der Berlinale. Es waren dies die Dokumentation The Summit von Franco Fracassi und Massimo Lauria und der Spielfilm Diaz – Don’t Clean Up This Blood von Daniele Vicari. Positiv ist zu vermerken, dass beide Filme nicht versuchen, das Vorgehen der Polizei zu rechtfertigen. Beide stehen klar auf Seiten der Opfer der Polizeigewalt, die von Amnesty International als «größte Außerkraftsetzung von demokratischen Rechten in einem westlichen Land nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs» bezeichnet wurde.
Beiden Filmen gelingt es aber nicht, die politischen Hintergründe aufzuklären. Auch die politischen Diskussionen innerhalb der Antiglobalisierungsbewegung kommen nicht vor. Von der italienischen Polizei wurde der sog. Schwarze Block als Rechtfertigung für ihre extremen Übergriffe herangezogen. Was das ist, können oder wollen beide Filme nicht aufklären. Ihre Versuche bleiben entweder in den gängigen Klischees stecken oder machen den beliebten Unterschied zwischen «guten» und «bösen» Demonstranten.
Diaz – Don’t Clean Up This Blood setzt bei der Darstellung der Polizeigewalt darauf, diese besonders explizit ins Bild zu setzen. Dabei wird in mindestens einer Szene die Grenze zum Voyeurismus überschritten. Der Regisseur vertraut wohl darauf, dass besonders explizite Gewaltdarstellung die Zuschauer schockiert und zur Abneigung gegen Gewalt veranlasst. Erfahrungsgemäß funktioniert diese pädagogische Holzhammermethode meistens nicht.
Eine weitere Enttäuschung war der Film Indignados von Tony Gatlif. Die Ankündigung versprach eine Art filmische Utopie über die Verbrüderung von Einwanderern mit den neuen Bewegungen in Europa wie «occupy» oder eben den «indignados» in Spanien. Heraus kam eine zum Teil verwirrende Abfolge von Bildern mit zum Teil viel zu lang(weilig)en Einstellungen, die von mehr oder weniger nichtssagenden Zitaten aus Stéphane Hessels Buch Empört Euch begleitet wurden. Am Ende ist die Protagonistin – die aus Afrika nach Europa geflüchtete Betty – noch isolierter als am Anfang. Ratlos verließ ich das Kino. War die Botschaft, dass soziale Bewegungen sinnlos sind oder zumindest den Migranten sowieso nicht helfen?
Sehenswert
Nachdem ich von den Filmen über Genua und Indignados, in die ich mit vielleicht zu hohen Erwartungen gegangen war, eher enttäuscht war, möchte ich noch einige Filme positiv hervorheben.
Zunächst den Dokumentarfilm Revision von Philip Scheffner. Er arbeitet akribisch die Vor- und Nachgeschichte eines angeblichen Jagdunfalls auf, bei dem im Juni 1992 an der deutsch-polnischen Grenze zwei rumänische Roma erschossen wurden. Der brasilianische Spielfilm Xingu von Cao Hamburger erzählt die Geschichte der Brüder Villas-Bôas, deren Lebenswerk die Einrichtung des Xingu-Nationalparks zum Schutz der Ureinwohner des Amazonasgebiets war. Choco aus Kolumbien stellt die mehrfache Ausbeutung seiner Hauptfigur – einer afrokolumbianischen Frau – in den Mittelpunkt und wie diese sich dagegen wehrt.
Besonders eindrucksvoll fand ich den Dokumentarfilm Nuclear Nation. Dieser stellt das Schicksal einer nach der Atomkatastrophe von Fukushima evakuierten Dorfgemeinschaft vor, die in einer Schule in Tokyo hausen muss. Die Folgen des GAUs werden vor allem bei einer Fahrt ins evakuierte Niemandsland deutlich, das wie eine Mondlandschaft aussieht. Die Menschen kämpfen geduldig und solidarisch gegen die Trägheit und die Lügen der japanischen Regierung und auch der Betreibergesellschaft Tepco. Das Ganze setzt Regisseur Funahashi Atsushi ebenso ruhig wie eindrucksvoll ins Bild. Dabei werden auch die politischen Lernprozesse der Evakuierten deutlich.
Ein kleines Juwel ist der Spielfilm Glaube, Liebe, Tod des Österreichers Peter Kern. Er behandelt sehr österreichisch das Verhältnis eines übergewichtigen, kranken 63-Jährigen zu seiner immer noch Hitler verehrenden Mutter, die körperlich gesünder ist als ihr Sohn. Der Mutter-Sohn-Konflikt eskaliert während einer Bootsfahrt. Als ein Araber an Bord kommt, brechen die Vorurteile der Mutter endgültig durch, während der Sohn darin eine Möglichkeit sieht, sich von seiner Mutter zu befreien. Im Abspann wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die wenigen dokumentarischen Aufnahmen im Film von Wikileaks stammen.
Die sehenswerte Dokumentation Unter Männern – Schwul in der DDR von Markus Stein und Ringo Rösener stellt ein wenig bekanntes Kapitel der DDR-Geschichte vor und erzählt, dass es in der DDR eine organisierte nichtstaatliche Schwulenbewegung gab. Dabei muss auch erwähnt werden, dass die DDR im Gegensatz zur BRD 1949 nicht den von den Nazis verschärften §175 StGB, sondern die weniger scharfe Fassung von vor 1933 übernahm. Dadurch war die Rechtsstellung der Schwulen in der DDR etwas besser als in der BRD. Aber auch dieser Paragraf wurde kaum angewandt. In der DDR wurden Schwule nicht verfolgt, sondern eher verschwiegen und so an den Rand gedrängt.
Die Retrospektive Die rote Traumfabrik zeigte Filme der deutsch-sowjetischen Filmproduktionsfirma Meshrabpom-Film aus den 20er und 30er Jahren, die mit Prometheus, dem Filmunternehmen des «roten Pressezaren» Willi Münzenberg, zusammenarbeitete. Dabei wurde eindrucksvoll demonstriert, dass der frühe sowjetische Film außer den großartigen Arbeiten von Sergej Eisenstein noch einige weitere gute Filme zu bieten hat.
Außerdem lernte ich, dass der kambodschanische Film zwischen 1961 und 1975 eine Blütezeit erlebte, die von den Roten Khmer brutal beendet wurde. Zwei Spielfilme aus dieser Zeit und ein Dokumentarfilm belegten dies eindrucksvoll.
Vielleicht bringt dieser Bericht ja einige auf den Geschmack, Filmfestivals zu besuchen.
Weitere Infos: www.berlinale.de.
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