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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2012
Als ob es kein Morgen gäbe
von Michael T. Klare

Der Ölpreis ist derzeit höher als je zuvor – mit Ausnahme einiger hektischer Ausschläge vor der Weltwirtschaftskrise 2008. Viele akute Faktoren sind dafür verantwortlich: die Drohung des Iran mit einer Blockade der Öltransporte im Persischen Golf; die Angst vor einem neuen Krieg im Mittleren Osten; Unruhen im energiereichen Nigeria. Doch der Hauptgrund für die höheren Ölpreise liegt in einer grundlegenden Verschiebung der Struktur der Ölförderung.

Wir erleben zur Zeit in Bezug auf die Energieversorgung einen grundlegenden Wandel: Relativ leicht zugängliches und kostengünstiges «konventionelles» Erdöl verschwindet, also die Sorte Öl, die in den letzten 65 Jahren eine schwindelerregende Expansion des globalen Reichtums ermöglicht und endlose, vom Automobil abhängige Vorstädte geschaffen hat – deren Vorräte sind nahezu verbraucht.

Die Welt birgt darüber hinaus immer noch große Erdölvorräte, aber diese gehören zu einer schwer erreichbaren und schwer raffinierbaren, «unkonventionellen» Sorte. Von jetzt an wird jedes Barrel, das wir verbrauchen, kostspieliger zu fördern und kostspieliger zu raffinieren sein – und somit teurer.

Diejenigen, die behaupten, dass die Welt immer noch «in Öl schwimmt», haben technisch gesehen Recht. Doch nicht alle Vorkommen sind gleich: Einige befinden sich nahe der Oberfläche oder nahe der Küste und sind in weichem, porösem Fels eingeschlossen; andere stecken tief unter der Erdoberfläche, weitab von der Küste, oder sind in unzugänglichen Felsformationen gefangen. Erstere sind relativ leicht auszubeuten und liefern einen flüssigen Brennstoff, der leicht raffiniert werden kann. Letztere hingegen können nur durch kostspielige, umweltschädigende Techniken gefördert werden, und oft entsteht daraus ein Produkt, das erst noch stark bearbeitet werden muss, bevor es raffiniert werden kann.

Peak Oil

Die einfache Wahrheit ist: Die meisten auf der Welt vorhandenen Vorkommen an konventionellem Erdöl sind bereits erschöpft – abgesehen von Vorkommen in Ländern wie dem Irak, in denen Krieg herrscht. Praktisch das gesamte restliche Öl ist schwer erreichbar. Dazu gehören Tiefseeöl, polares Öl und Schieferöl, ebenso die kanadischen «Ölsande» – die gar kein Öl enthalten, sondern Schlamm, Sand und teerähnliches Bitumen. Unkonventionelle Vorkommen dieses Typs können ausgebeutet werden, aber oft zu einem horrenden Preis, nicht nur gemessen in Dollars, sondern auch in Umweltschäden.

In der Ölindustrie wurde diese Tatsache zum ersten Mal vom Chevron-Vorsitzenden David O’Reilly in einem Brief zugegeben, den viele amerikanische Zeitungen veröffentlichten. «Eines ist klar», schrieb O’Reilly, «die Ära des konventionellen Öls ist vorbei.» Nicht nur gingen viele bestehende Ölfelder zur Neige, es würden auch «neue Energiereserven vorwiegend an Orten entdeckt, deren Vorkommen nur schwer zu fördern sind, physisch, ökonomisch und sogar politisch».

Einen weiteren Beweis für die strukturelle Verschiebung der Ölförderung lieferte die Internationale Energieagentur (IEA) 2010 in einer Untersuchung über ihre weltweiten Aussichten. Sie kommt zu folgendem erstaunlichen Ergebnis: Es sei zu erwarten, dass die größten bestehenden Erdölfelder in den nächsten 25 Jahren drei Viertel ihrer Produktionskapazität verlieren werden, pro Tag ein Verlust von weltweit 52 Millionen Barrel bzw. etwa 75% des aktuellen Ausstoßes an Rohöl.

Die Konsequenz: Entweder wir finden neues Öl, um diese 52 Millionen Barrel zu ersetzen, oder das Zeitalter des Erdöls geht bald zu Ende und die Weltwirtschaft bricht zusammen. Neues Öl wird es selbstverständlich geben, schreibt die IEA, aber nur von der unkonventionellen Variante, die von uns allen – und auch vom Planeten – einen Preis abverlangt.

Tiefseeöl

Die Ölgesellschaften führen seit einiger Zeit Offshorebohrungen durch, besonders im Golf von Mexiko und im Kaspischen Meer. Bis vor kurzem fanden solche Bohrungen stets in relativ seichtem Wasser statt, was den Unternehmen erlaubte, konventionelle Bohrer zu verwenden, die auf festen Pfeilern montiert sind. Das Bohren in Tiefen über 300 Meter ist eine ganz andere Sache. Es erfordert spezialisierte, sehr komplexe und ungeheuer kostspielige Bohrplattformen, deren Kosten in die Milliarden gehen.

Die «Deepwater Horizon», die im April 2010 nach dem unkontrollierten Austreten von Erdöl in Brand geriet und unterging, ist ein typisches Beispiel dafür. Die Plattform wurde 2001 für etwa 500 Millionen Dollar gebaut; die Kosten für Wartung und  Personal betrugen pro Tag etwa 1 Million Dollar. Zum Teil wegen dieser hohen Kosten war BP darauf aus, die Arbeit am Ölfeld Macondo schnell zu beenden und die «Deepwater Horizon» an eine andere Bohrstelle zu bringen. In Eile versiegelte die Besatzung das Bohrloch, was zum Austritt explosiver Gase und zur Katastrophe führte. BP muss nun über 30 Milliarden Dollar Schadenersatz zahlen.

Nach dieser Katastrophe verfügte die Regierung Obama ein vorübergehendes Verbot von Tiefseebohrungen. Kaum zwei Jahre später sind die Bohrungen in den tiefen Wassern des Golfs jedoch wieder auf dem alten Stand. Mittlerweile nehmen sie auch anderswo Fahrt auf, zum Beispiel in Brasilien, weit vor der Küste von Rio de Janeiro, aber auch vor Ghana, Sierra Leone und Liberia.

Der Energieanalyst John Westwood schätzt, dass solche Tiefseebohrungen bis 2020 10% des weltweiten Öls liefern werden – 1995 waren es noch 1%. Die Entwicklung der meisten dieser neuen Felder wird Dutzende oder Hunderte Milliarden Dollar kosten und sich nur dann als profitabel erweisen, wenn Öl weiterhin zu 90 Dollar oder mehr pro Barrel verkauft wird.

Brasiliens Ölfelder im Meer – von einigen Experten als die vielversprechendste Neuentdeckung dieses Jahrhunderts betrachtet – liegen 2400 Meter unter Wasser und 4000 Meter unter Sand, Fels und Salz. Dafür ist die weltweit fortgeschrittenste und kostspieligste Bohrausrüstung erforderlich, die teilweise erst noch entwickelt werden muss. Das staatliche Energieunternehmen Petrobras hat 53 Milliarden Dollar für das Projekt veranschlagt, nur für den Zeitraum 2011–2015, doch die meisten Analysten glauben, dass die Kosten viel höher steigen werden.

Polares Öl

Es wird erwartet, dass wir einen bedeutenden Anteil unserer künftigen Ölversorgung aus der Arktis ziehen werden. Bis vor kurzem war die Produktion dort sehr begrenzt. Mit Ausnahme der Prudhoe-Bucht an der arktischen (nördlichen) Küste von Alaska und einer Reihe von Feldern in Sibirien haben die großen Gesellschaften die Region bislang weitgehend gemieden. Jetzt allerdings werden größere Ausflüge in die schmelzende Arktis vorbereitet.

Unter jedem Gesichtspunkt ist die Arktis der letzte Ort, an den man sich gerne begibt, um nach Öl zu bohren. Stürme sind dort häufig, die Wintertemperaturen fallen weit unter den Gefrierpunkt. Der größte Teil der üblichen Bohrausrüstung kann unter diesen Bedingungen nicht eingesetzt werden, kostspielige Spezialausrüstung ist erforderlich. Die Belegschaften können nicht lange in der Region leben. Der größte Teil der Versorgung mit Nahrung, Brennstoff, Baumaterialien muss zu horrenden Preisen aus Tausenden Kilometern Entfernung herbeitransportiert werden.

Aber die Arktis hat auch ihre Attraktion: Milliarden Barrel ungenutzten Öls. Laut dem US Geological Survey enthält das Gebiet nördlich des nördlichen Polarkreises, das nur 6% der Erdoberfläche ausmacht, geschätzte 13% der noch vorhandenen Ölreserven (und einen noch größeren Anteil an unentwickeltem Naturgas).

Im kommenden Sommer will Royal Dutch Shell mit Testbohrungen sowohl in der Beaufort- als auch in der Tschuktschensee beginnen, die beide an das nördliche Alaska grenzen. Dafür hat Shell bereits 4 Milliarden Dollar ausgegeben, ohne auch nur ein einziges Barrel Öl produziert zu haben. Statoil und andere Unternehmen planen ausgedehnte Bohrungen in der Barentssee nördlich von Norwegen.

Diese Region hat ein labiles ökologisches Gleichgewicht, Umweltaktivisten und lokale indigene Bevölkerungen wehren sich heftig gegen die Eingriffe.

Ölsande und Schweröl

Ein weiterer bedeutender Anteil an der künftigen Versorgung der Welt mit Erdöl soll aus kanadischen Ölsanden (auch Teersande genannt) und extra schwerem Öl aus Venezuela kommen. In keinem der beiden Fälle handelt es sich um Öl im herkömmlichen Sinne. Im Naturzustand sind die Vorkommen nicht flüssig, sie können auch nicht auf traditionellem Wege gefördert werden, aber sie kommen in großen Mengen vor. Laut US Geological Survey enthalten Kanadas Ölsande das Äquivalent von 1,7 Billionen Barrel konventionellen Öls, Venezuelas Vorkommen eine weitere Billion Barrel Öl – nicht alles davon ist mit der bestehenden Technologie «förderbar».

Diese Ressourcen lassen sich nur unter Anwendung fortgeschrittener Technologien und bei völliger Gleichgültigkeit gegen über den Folgen für die Umwelt nutzen. Kanadas Ölsande werden durch einen Prozess gewonnen, bei dem riesige Schaufelbagger eine Mischung aus Sand und Bitumen aus dem Boden reißen. Dabei ist das oberflächennahe Bitumen in der ölsandreichen Provinz Alberta bereits größtenteils erschöpft, alle zukünftigen Förderungen müssen in größeren Tiefen stattfinden. Dampf wird dort eingespritzt werden müssen, um das Bitumen zu schmelzen, damit es hochgepumpt werden kann. Das Verfahren ist sehr energieintensiv, und es fallen große Mengen sehr giftiger Abfälle an.

In Venezuela enthält der Orinocogürtel eine besonders dichte Konzentration von Schweröl mit einem förderbaren Volumen von 513 Milliarden Barrel Öl. Aber die Umwandlung dieser molasseähnlichen Form von Bitumen in einen brauchbaren flüssigen Brennstoff übersteigt bei weitem die technischen Kapazitäten und die finanziellen Ressourcen der staatlichen Ölgesellschaft Petróleos de Venezuela. Diese sucht nun ausländische Partner, die bereit sind, die zum Bau der notwendigen Einrichtungen erforderlichen 10–20 Milliarden Dollar zu investieren.

Viele der vielversprechenden Felder mit unkonventionellem Öl liegen im Kaspischen Meer und in konfliktträchtigen Regionen Afrikas. Um in diesen Gebieten zu fördern, kommen zusätzlich noch die politischen Kosten für Bestechung und Erpressung, Sabotage und Bürgerkriege hinzu.

Wenn all diese Barrel von Öl und ölähnlichen Substanzen gefördert werden, werden wir noch jahrzehntelang massiv fossile Brennstoffe verbrennen können, aber dafür nicht nur bei der Förderung und für das Endprodukt einen exorbitanten Preis bezahlen, sondern noch mehr Treibhausgase produzieren – als ob es kein Morgen gäbe.

Michael T. Klare ist Dozent am Hampshire College in Amherst, Mass. (USA). Er ist Autor mehrerer Bücher zum Thema, u.a. «Blood and Oil» (2004) und «The Race for What’s Left: The Global Scramble for the World’s Last Resources» (2012).

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