von Andrej Hunko
Der von CDU, SPD und FDP geplante Maulkorb für kritische Abgeordnete ist aufgrund der breiten Empörung mittlerweile vom Tisch. Dennoch lohnt eine Nachbetrachtung dieses bemerkenswerten Vorgangs. Es ist zu erwarten, dass es nicht der Letzte seiner Art war, demokratische und soziale Standards in der EU einzureißen.
Es ist kein Zufall, dass sich die Auseinandersetzung, die zu einer Änderung der Geschäftsordnung des Bundestages führen sollte, an einer Debatte zur Eurokrise entzündete: Am 29.September 2011 stand die Aufstockung der Mittel des EFSF auf der Tagesordnung, jener merkwürdigen Konstruktion, die die Gläubiger notleidender EU-Staaten aus allgemeinen Steuermitteln bedient, während für die Staaten zugleich heftige Sparprogramme aufgelegt werden.
Diese vorübergehende Konstruktion, die in den dauerhaften ESM übergehen soll, wird von allen vier neoliberalen Parteien im Bundestag mit breiter innerfraktioneller Mehrheit unterstützt. Einzelnen Abweichlern innerhalb von CDU und FDP wurde in der Bundestagsdebatte jedoch vom Parlamentspräsidenten das Wort zur Darstellung ihrer Position erteilt. Auch elf Abgeordnete der Linksfraktion, darunter der Autor dieses Beitrags, nutzten die bestehende Geschäftsordnung zur Abgabe einer jeweils fünfminütigen persönlichen Erklärung.
Im Unterschied zu den Abweichlern von CDU und FDP stand diese Erklärung allerdings nicht im Widerspruch zur eigenen Fraktion. Das Recht zur Abgabe einer mündliche persönlichen Erklärung besteht unabhängig davon, ob sie im Widerspruch zur Position der eigenen Fraktion steht oder nicht. Auch dieses Recht sollte im Zuge der Geschäftsordnungsänderung beschnitten werden.
In der veröffentlichten Meinung wird in erster Linie der Position der Abweichler aus der Regierungskoalition breiter Raum eingeräumt. Deren Kritik an den abenteuerlichen Konstruktionen EFSF und ESM ist jedoch im Kern eine nationalistische: Wir wollen nicht für die faulen Südländer zahlen. Dabei werden auch berechtigte Argumente am undemokratischen Charakter von EFSF und ESM vorgebracht. Die Linksfraktion lehnt EFSF, ESM und Fiskalpakt ab, weil sie einen Transferunion von öffentlichen Geldern in Richtung Finanzsektor darstellen, nicht in Richtung Südländer.
Da die Krise mit diesen Mittel nicht gelöst werden kann und sich absehbar sogar noch verschärfen wird, ist zu erwarten, dass weitere Vorstöße zur Schleifung demokratischer und sozialer Standards folgen werden. Die ökonomische Kernargumention der Bundesregierung lautet: Alles tun, «um die Märkte zu beruhigen und ihr Vertrauen wieder zu gewinnen». Nach dieser Logik wird der Tag kommen, an dem parlamentarische Vorgänge als solche, ja sogar Parlamentswahlen, als «Beunruhigung der Märkte» begriffen werden. Der ursprünglich angesetzte Neuwahltermin in Griechenland wurde bereits genau mit dieser Argumentation vom 19.Februar auf den 6.Mai verschoben.
Der Autor ist Bundestagsabgeordneter für die Partei Die Linke.
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