Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2012
von Sylvain Pattieu
Am 18.März 1962 unterzeichnete Frankreich das Abkommen von Evian, mit dem es die Unabhängigkeit Algeriens anerkannte, das seit 1830 französische Kolonie war. Die algerische Regierung proklamierte am 5.Juli offiziell die Unabhängigkeit des nordafrikanischen Landes. Damit endete ein antikolonialer Befreiungskampf, der 1954 begonnen hatte und, wie später der Vietnamkrieg, ein wichtiger Kristallisationspunkt für die Herausbildung einer radikalen Linken in Europa war. Frankreich erlebt im Jahr 1954 zwei größere Ereignisse, die dem Kolonialreich die Totenglocken läuten: Am 7.Mai 1954 erfahren die Franzosen von ihrer Niederlage bei Dien Bien Phu, darauf folgt im Juli das Genfer Abkommen, das die Unabhängigkeit und die Teilung Vietnams sanktioniert und das Ende der französischen Präsenz in Asien bedeutet. Am 1.November 1954 bricht an verschiedenen Stellen des algerischen Territoriums ein Aufstand aus, zu dem sich eine bislang unbekannte Organisation, die FLN (Front de Libération Nationale), bekennt. Die militärischen Operationen kennzeichnen den Beginn eines Krieges, der acht Jahre dauert und den Tod von insgesamt 300.000 Menschen zur Folge hat. Zu dem Zeitpunkt ist die Entkolonialisierung in Afrika bereits im vollen Gange – so in Marokko und in Tunesien –, das hätte auch in Algerien zu einer reibungslosen Entkolonialisierung führen können. Aber der algerische Befreiungskampf stellt auch die Zugehörigkeit der Kolonie zum französischem Territorium in Frage, denn ihr Gebiet wird zu den französischen Départements gezählt. Vor allem aber ist sie eine Kolonie, in der 984.000 «Europäer», von denen 79% in Algerien geboren sind, 8.475.000 «Muslimen» gegenüberstehen. Die Geburt der FLN Die algerische nationalistische Bewegung, die seit den 30er Jahren von Messali Hadj angeführt wird, steckt Anfang der 50er Jahre in einer Sackgasse. Die von ihm gegründete «Bewegung für den Triumph der demokratischen Freiheiten» (MTLD) ist über die Strategie gegen den französischen Imperialismus gespalten und scheint gelähmt. Dessen überdrüssig, bereitet eine kleine Gruppe von MTLD-Aktivisten insgeheim einen Aufstand vor, der im November 1954 ausbricht. Die Operationen beginnen in der Nacht vom 31.Oktober zum 1.November: Etwa dreißig Attentate führen zum Tod von neun Europäern, darunter drei Armeeangehörigen. Militärisch scheitert der Aufstand, denn der Überfall auf die Kasernen von Batna, Khenchela, Blida und Oran, der den Aufständischen Waffen verschaffen soll, bleibt erfolglos. Aber psychologisch ist die Lage eine gänzlich andere. Die Zeitung Le Monde vom 4.November spricht von einem Text, in dem sich «eine gewisse Front de Libération Nationale» zu den Attentaten bekennt und der «für die Aktivisten der nationalen Sache das Programm der Terroristen» darlegt. Die bislang unbekannte FLN, angeführt von Männern wie Mohamed Boudiaf, Hocine Aït Ahmed oder Ahmed Ben Bella, löst damit – für die französische Regierung ebenso unerwartet wie für die MLTD – die nationale Revolution aus. Es ist der Anfang eines wirklichen Krieges, das algerische Volk beginnt den bewaffneten Kampf, um sich vom kolonialen Joch zu befreien. Messali Hadj will seine führende Rolle in der nationalistischen Bewegung nicht widerstandslos aufgeben und gründet eine Konkurrenzorganisation zur FLN, die «Algerische Nationalistische Bewegung» (MNA). Weit davon entfernt, gegen einen gemeinsamen Feind zu kämpfen, beginnen beide einen Bruderkrieg, der zahlreiche Opfer fordert. Ab 1957/58 ist der FLN die vollständige Hegemonie in Algerien und unter der algerischen Emigration in den Metropolen sicher, einige Einheiten der MNA gehen sogar auf die Seite der französischen Armee über. Repression und Solidarität Auf der Seite der Franzosen ist die Repression furchtbar: Sie trifft die algerischen Kämpfer, aber auch Zivilpersonen, die im Verdacht stehen, Informationen zu haben oder der FLN zuzuarbeiten. Die Praxis der Folter ist verbreitet, ebenso die Vergewaltigung von Frauen. Der Rassismus, Erbe von über hundert Jahren Kolonialherrschaft, trägt zur Brutalisierung der Soldaten bei, die in ihrem schmutzigen Geschäft von den sog. «Harkis», muslimischen Hilfstruppen des französischen Algerien, unterstützt werden. Im Dezember 1955 gewinnt in Frankreich die Linke die Wahlen mit einem vagen Programm «Frieden für Algerien». Statt des Friedens ist es aber der Krieg, den der «sozialistische» Regierungschef Guy Mollet ausweitet. Im März verabschiedet die Nationalversammlung «Sondervollmachten», die eine Verschärfung der Repression und die Einführung eines permanenten Ausnahmezustands in Algerien erlauben, die Armee bekommt freie Hand. Die Französische Kommunistische Partei (PCF) stimmt für die Sondervollmachten und bleibt während des gesamten Krieges in der algerischen Frage sehr zurückhaltend, sie schließt sogar Mitglieder aus, die aktiv die FLN unterstützen. Im September 1956 operieren 400.000 Soldaten in Algerien, während die FLN mit den Attentaten der «Milk-Bar» und der «Cafétéria» in Algier eine Serie von Anschlägen auf Orte startet, die von Europäern frequentiert werden. Am 22.Oktober 1956 kapert die französische Armee ein Flugzeug mit fünf FLN-Anführern an Bord: Ahmed Ben Bella, Mohamed Boudiaf, Hocine Aït Ahmed, Mohamed Khider und Mostefa Lacheraf, international wird diese Aktion verurteilt. Auch in der Metropole selbst entstehen Netzwerke zur Unterstützung der FLN. Es ist zunächst die trotzkistische und libertäre extreme Linke, die schon ab 1955 Netzwerke von «Kofferträgern» errichtet, um die revolutionäre Steuer einzusammeln, die die FLN von den algerischen Arbeitsmigranten in Frankreich erhebt, aber auch um falsche Papiere herzustellen, die Untergrundpresse der FLN zu drucken oder Verantwortliche der FLN durch Frankreich zu schleusen. Nach und nach entstehen weitere Netzwerke, organisiert von progressiven Christen, dissidenten PCF-Mitglieder oder Humanisten. Intellektuelle prangern die Folter an und unterstützen die Kofferträger zur Zeit des aufsehenerregenden Prozesses «Jeanson». Diese Netzwerke ermöglichen französischen Deserteuren auch, Zuflucht im Ausland zu finden. De Gaulles Coup Der Krieg untergräbt die IV.Republik. Die Armee übernimmt putschartig die Kontrolle über das Generalgouvernement Algier, General Massu leitet den «Wohlfahrtsausschuss» und fordert General de Gaulle auf, die Macht zu übernehmen; gleichzeitig landen Fallschirmjäger in Korsika. Nach diesem Gewaltstreich wird de Gaulle am 12.Juni von der Nationalversammlung als Ministerpräsident eingesetzt. Er schlägt eine neue Verfassung vor, die am 28.September 1958 per Referendum verabschiedet wird. Am 23.Oktober bietet er den algerischen Kämpfern den «Frieden der Tapferen» an, aber ohne Garantie der Unabhängigkeit, die FLN weist sein Angebot zurück. Am 21.Dezember 1958 wird de Gaulle der erste Präsident der V.Republik. Er enttäuscht jedoch die «Ultras» [die unversöhnlichen Gegner einer Unabhängigkeit Algeriens], die ihn an die Macht gebracht haben, als er im September 1959 von einer möglichen Selbstbestimmung Algeriens spricht, sie gründen eine «Sammlung für das französische Algerien» (RAF). In dem Maße, wie sich die Idee eines unabhängigen Algerien durchsetzt, radikalisieren sich die Aktionen der Ultras: Vom 24.Januar bis zum 1.Februar 1960 organisieren sie in Algier die «Woche der Barrikaden». Die Entschlossensten von ihnen gründen die OAS (Organisation Armée Secrète), eine extrem rechte Untergrundorganisation, die gegen «Muslime», Intellektuelle und Zeitungen, die die Unabhängigkeit verfechten, Attentate organisiert. Aber die Gegner des Krieges verschaffen sich ebenfalls Gehör und demonstrieren auf Initiative des nationalen Studentenverbands UNEF am 27.Oktober 1960, und die Aktivisten des Netzwerks Jeanson zur Unterstützung der FLN, die «Kofferträger», werden vom «Manifest der 121» unterstützt, das Intellektuelle und Prominente unterzeichnet haben. Das Referendum über die Selbstbestimmung Algeriens am 8.Januar 1961 wird zu einem Erfolg für de Gaulle, der weiter für die Unabhängigkeit Algeriens arbeitet. Aber dies bedeutet nicht das Ende der Repression gegen die Algerier. Der Pariser Präfekt Papon verhängt am 5.Oktober 1961 eine Ausgangssperre für algerische Immigranten. Eine friedliche Demonstration der französischen Föderation der FLN gegen diese Maßnahme wird am 17.Oktober 1961 von der Polizei gewaltsam unterdrückt, mehrere hundert Algerier werden getötet. Am 8.Februar 1962 werden Franzosen, die gegen die OAS demonstrieren, Opfer der Repression – acht von ihnen sterben in der Métrostation Charonne, überwiegend Mitglieder der PCF. Die Verhandlungen zwischen der französischen Regierung und der FLN münden im März 1962 in das Abkommen von Evian, das im April 1962 in Frankreich durch ein Referendum gebilligt wird. Die «Pied-noirs», die Europäer Algeriens, fliehen aus dem Land, das nicht mehr französisch ist, während die Attentate der OAS jedes Zusammenleben zwischen den Gemeinschaften unmöglich und die Bestimmungen des Evian-Abkommens über die Rechte der Minderheit im Land unwirksam machen. Es bleibt nun, Algerien wiederaufzurichten. Die verschiedenen Fraktionen der FLN schicken sich an, um die Macht zu kämpfen. Der Konflikt aber hat die französische Gesellschaft tief geprägt. Aus: Tout est à nous! La revue, Nr.30, März 2012, www.npa2009.org.

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