Arbeiten ohne Chef
von Werner Ruhoff
Anlässlich des 45-jährigen Bestehens der Kooperative Cecosesola in der Millionenstadt Barquisimeto östlich von Caracas erschien im Berliner Verlag «die Buchmacherei» das Buch «Auf dem Weg – Gelebte Utopie einer Kooperative in Venezuela». Drei Mitglieder der Kooperative waren in Deutschland unterwegs, um über ihre Geschichte zu berichten.
Am Anfang stand die Gründung eines Bestattungsinstituts, mit dem ärmeren Menschen ein würdiges Begräbnis ermöglicht werden sollte. Später kam ein Busunternehmen hinzu, das durch soziale Auseinandersetzungen mit den privaten Busunternehmern und der Stadt in eine existenzielle Krise geriet. Von da an machte die Kooperative einen Wandel durch: vom hierarchischen Unternehmen zur basisdemokratisch orientierten Bewegung.
Die Kooperative hat inzwischen über eintausend aktive Mitglieder, betreibt drei Gemüsemärkte, die von etwa 55.000 Menschen wöchentlich besucht werden, daran angeschlossen sind Kooperativen der Lebensmittelproduktion. Das Bestattungsinstitut gibt es nach wie vor, darüber hinaus auch ein neues Gesundheitszentrum mit ausgebildeten Ärztinnen. Das auf den Großmärkten an die Bevölkerung verkaufte Gemüse ist etwa 30% preiswerter als auf den anderen Märkten. Trotzdem liegt die einheitliche Bezahlung der aktiven Mitglieder (es gibt Abweichungen je nach Familienstand) doppelt so hoch wie der derzeitige Mindestlohn von etwa 175 Bolivar – ein Problem in Venezuela ist allerdings die hohe Inflation von ca. 30%.
Die Strukturen
Es gibt weder Chef noch Chefin, weder Leistungskontrolle noch Bestrafung. Stattdessen wird das Konsensprinzip praktiziert. Wenn es einen Dissens gibt, wird so lange über den Sachverhalt diskutiert, bis eine gemeinsame Lösung gefunden ist. Der zeitliche Rahmen richtet sich nach den Bedürfnissen der Mitglieder. Das setzt die Bereitschaft voraus, neben den üblichen Tätigkeiten auch die nötige Zeit für solche Diskussionen aufzubringen, was anscheinend im Laufe der Jahre durch die Entstehung eines «familiären» Klimas für viele ziemlich normal und auch wünschenswert geworden ist.
Dabei nehmen aber nie alle an solchen Diskussionen teil, sondern lediglich diejenigen, die sich betroffen fühlen. Es wäre nicht machbar, alle anstehenden Fragen und Probleme der täglichen Arbeit immer in Vollversammlungen zu behandeln. Aber es gibt regelmäßige Versammlungen in den verschiedenen Bereichen der Kooperative. Probleme der allgemeinen Orientierung werden dadurch gelöst, dass sich viele Mitglieder in einem ständigen Prozess der Reflexion über ihr kollektives Tun befinden, in dem gemeinschaftliche Kriterien erarbeitet werden, nach denen jede und jeder Einzelne in ihrem/seinem Bereich verantwortlich handelt und selbstständig entscheidet.
Dazu kommt, dass die Demokratie der Produzenten durch das Rotationsprinzip ausgeweitet wird. So weit als möglich verrichten die einzelnen Beschäftigten unterschiedliche Arbeiten – etwa auf dem Wochenmarkt oder im Gesundheitszentrum. Das erweitert den Überblick über die anstehenden Probleme und damit das fachspezifische Urteilsvermögen.
Ein Grundkonsens der Cooperative Cecosesola, in dessen Rahmen die Mitglieder sich verhalten und entscheiden, heißt: Nicht profitorientiert wirtschaften – die Erzielung von Gewinnen ist weder Selbstzweck noch vorrangig. Man kalkuliert auf die Kosten einen Aufschlag, um die Mitglieder zu bezahlen, Sozialtransfers zu leisten und Ersatzinvestitionen zu finanzieren. Wenn eine Mitgliedskooperative im Dachverband finanzielle Unterstützung braucht, wird diese nach einem Beschluss der Versammlung in der Regel zinslos gewährt – aus dem eigenen Fonds, der wie eine Sparkasse funktioniert, die auch Darlehen an Mitglieder für die Anschaffung von Konsumgütern gewährt.
Ein weiterer Grundkonsens lautet: Kooperation statt Konkurrenz, Solidarität statt Verdrängung. Dies alles wird nicht als etwas Fertiges aufgefasst, sondern als ein ständiger Lernprozess durchlebt – man ist «auf dem Weg», wie es auch der Buchtitel zum Ausdruck bringt.
Regierung und Private
Auf die Frage, wie Cecosesola zur Regierung Chávez stehe, meinten die Kooperative-Mitglieder, man habe bisher versucht, mit jeder Regierung zurecht zu kommen. Man habe kein besonderes Verhältnis zur Regierung Chávez. Die Existenz von Genossenschaften und deren Steuerfreiheit sei älter als diese Regierung. Bei der Novellierung der Genossenschaftsgesetzgebung habe man eigene Vorschläge eingebracht, die von der Regierung Chávez angenommen wurden. Dadurch konnte man in Cecosesola alle hierarchischen Strukturen abschaffen, die bis dahin vorgeschrieben waren.
Aber die staatlichen Anschubfinanzierungen von Genossenschaften seien nicht sehr erfolgreich gewesen, da man eine solidarisch funktionierende Genossenschaft nicht per Dekret und mit finanzieller Unterstützung allein von heute auf morgen auf die Beine stellen könne. Von über zweihunderttausend neu gegründeten Genossenschaften seien höchstens 8000 übrig geblieben.
Ein weiteres Problem ist die nach wie vor mächtige Konkurrenz privaten Reichtums. Der Vorschlag, für die finanziell Schwächeren einen von der Kooperative unterhaltenen Friedhof zu eröffnen, scheiterte trotz des zunächst sehr wohlwollend aufgenommenen Ansinnens daran, dass der Bürgermeister mehr auf das Geld für die Stadt aus war und das Grundstück für den Friedhof einer steuerpflichtigen Privatfirma überließ.
Im Nachwort des Buches schreibt John Holloway, der Autor des Buches «Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen», Cecosesola sei kein Modell. Vielmehr sei es eine Inspiration, mit welcher Sorgfalt Menschen dort etwas erschaffen und anders tun, was vollständig durch die Basis vermittelt ist. Dementsprechend auch der Untertitel des Vorwortes der Herausgeber: «Cecosesola hat unseren Begriff vom Machbaren verändert.»
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