Nachwort zur Debatte um Günter Grass
von Helmut Dahmer
In einem poetologischen Essay Sigmund Freuds heißt es: «Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit.» Unzufrieden wie jedermann, erträumen sich auch die Dichter bei Tag und bei Nacht ein anderes, verbessertes Leben, imaginieren Kompensationen ihrer Defizite oder gar eine andere, bessere Welt. Sie nehmen nicht nur auf, was geschieht und besprochen wird, sondern horchen in sich hinein, auf den Widerhall, den das, was jeweils «Sache» ist, in ihnen weckt. Im Reich der freien und unfreien Assoziationen, ihrer Domäne, verknüpft sich, was für gewöhnlich geschieden wird, Passendes mit Unpassendem, Biederes mit Ungehörigem, Ältestes mit Brandneuem. Poeten nehmen ihre Wunsch- und Albträume ernst, arbeiten mit ihnen und suchen reflektierend nach der Form, die dies gärende Material ihnen nahelegt und vermöge deren es mitteilbar wird. Zu Recht stehen sie in dem Ruf, mehr und anderes zu sehen als andere: Ihnen schwant das mögliche Desaster von morgen ebenso wie ein uns noch unbekanntes Glück – Krieg und Frieden. Politikern, Ordnungshütern und ihren Lesern gelten sie darum als unzuverlässig und provokant. Günter Grass hat Anfang April vor einem neuen großen Krieg gewarnt, der sich daraus ergeben kann, dass Israels Regierung (in Abstimmung mit der Regierung der USA oder im Alleingang) ihrer Luftwaffe den Auftrag gibt, wie früher im Irak und in Syrien nun iranische Atomanlagen zu zerstören, um die Entwicklung von Kernwaffen zu verhindern oder doch zu verzögern.* Militärsachverständige und Journalisten sind sich sicher, dass die Regierung des Iran einen solchen Angriff nicht hinnehmen, sondern mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln «zurückschlagen» würde. Das wiederum werde die USA auf den Plan rufen… Eine solche Entwicklung wird von vielen gefürchtet, und es hat in den letzten Jahren an entsprechenden Warnungen nicht gefehlt. Dass Grass als Schriftsteller sich diesem Chor der Warner anschließt, ehrt ihn. Doch haben ihm Form und Begründung seiner Kriegswarnung weit mehr Kritik als Zustimmung eingetragen. Kritiker der israelischen Innen- und Außenpolitik fühlen sich durch sein Votum bestätigt und loben ihn, Verteidiger der Regierung Netanyahu/ Barak/Lieberman beschimpfen ihn als «Antisemiten» und «Feind Israels».** Darum bleibt noch einiges zu klären und zu sagen… Grass hat für sein Votum nicht die Form eines Offenen Briefs, einer Glosse oder eines Leitartikels, sondern die eines Prosagedichts gewählt. Das Prosagedicht kennt zwar den Zeilenbruch, doch nicht den Reim, den Rhythmus, aber nicht das Versmaß. Diese Form setzt der «dichterischen Freiheit» kaum Schranken, und so steht das Zeitgedicht in Gefahr zu verwildern. Grassens zentrale These, mit der er (in der 41. von 68 Zeilen) herausrückt, lautet: «Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.» «Nur sie?», fragt der verblüffte Leser. Etwa weil sie, nach den vergeblichen militärischen Ausfällen in den Libanon (gegen die Hisbollah) oder in den Gazastreifen (gegen die Hamas), bei denen Atomwaffen keine Rolle spielten, sich nun verheben könnte, indem sie sich auch mit dem Iran anlegt und sich dann vielleicht, in letzter Not, in die ultima irratio flüchtet und ihre Atomwaffen einsetzt? Aber ist diese so denkbare wie unausdenkliche Möglichkeit eine aktuelle Gefahr, wie es der Dichter uns suggerieren will? Wovon spricht das Gedicht, was ist sein Thema, abgesehen von der Warnung, Israel könne zum «Verursacher» eines internationalen Krieges werden? Es handelt vom Schweigen, vom allgemeinen Verschweigen, dem sich der Dichter bisher «untergeordnet» habe, von der erzwungenen, «belastenden Lüge», von der «Heuchelei» (des Westens) – und davon, dass es nun höchste Zeit sei, das Schweigen zu brechen, um nicht zum Mitschuldigen eines «voraussehbaren Verbrechens» zu werden. Das Gedicht ist vor allem das große Bekenntnis eines Mannes, der durch Verschweigen Schuld auf sich geladen hat und zu guter Letzt sich gedrängt fühlt, die lange verhohlene Wahrheit doch noch auszusprechen. Was aber ist das für eine Wahrheit? Die «offensichtliche», dass der Staat Israel über Atomwaffen verfügt. Grass will uns glauben machen, der ungeheure Aufwand, den er hier mit Schuld und Sühne treibt, mit dem Verschweigen und dem mühsamen Sich-Durchringen zum Aussprechen dessen, was ist, sei erforderlich, um das schreckliche Geheimnis der Existenz israelischer Kernwaffen zu enthüllen. Doch rennt er damit offene Türen ein. Denn schon vor einem Vierteljahrhundert hat der israelische Nuklearingenieur Morchechai Vanunu Beweise dafür veröffentlicht, dass unweit des Städtchens Dimona im Negev eine Atomfabrik existiert und Israel über Atomsprengköpfe verfügt. (Vanunu wurde dafür mit 18 Jahren Haft bestraft und wird in Jerusalem noch immer in einer Art Hausarrest festgehalten.) Es handelt sich seitdem um ein offenbares «Geheimnis». Was den Dichter im Übrigen umtreibt, ist noch ganz etwas anderes als die Kriegsgefahr. Das Pathos, mit dem er in diesem Zusammenhang von einer verbotenen Wahrheit spricht, die endlich doch einmal ans Licht gebracht werden müsse, ist deplatziert; es entstammt der biografischen Arena und ist in die politische nur verschoben. Es ist dem Prozess entliehen, den Grass gegen sich selbst anstrengte, als er mit sich zu Rate ging, wie mit dem lange verschwiegenen Geheimnis umzugehen sei, dass er in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs bei der SS-Division «Frundsberg» Dienst tun musste. Im Gedicht wird das lange Schweigen des Dichters (und zwar zur Rolle, die Israel im Nahostkonflikt spielt) damit begründet, er habe wegen seiner «von nie zu tilgendem Makel behafteten» «Herkunft» aus Deutschland – dem Land unvergleichlicher, «ureigener Verbrechen» – gemeint, er dürfe «diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit» «dem Land Israel, dem ich verbunden bin und bleiben will», nicht zumuten. Noch einmal: Um welche «Tatsache» handelt es sich? Dem Gedicht zufolge zunächst um die der atomaren Bewaffnung Israels. Den letzten Anstoß zu der Zumutung, die mit dem Aussprechen dieser Wahrheit verbunden sei (die freilich inner- wie außerhalb Israels wohlbekannt ist, was Grass ignoriert), habe ihm die Meldung über die Lieferung eines (weiteren) Unterseeboots deutscher Fertigung an Israel gegeben, das in der Lage ist, eventuell auch Raketen mit «allesvernichtenden» atomaren Sprengköpfen auf den Iran abzufeuern. «Als Deutsche belastet genug», bestehe nun die Gefahr, als «Zulieferer» an einem «voraussehbaren» «Verbrechen» mitschuldig zu werden, was dann «durch keine der üblichen Ausreden zu tilgen wäre». Was den Dichter politisch umtreibt, ist die berechtigte Sorge um die Auslösung eines Krieges gegen den Iran. Was zudem in ihm rumort, ist die Sorge um seine Integrität, um das Verhältnis von offizieller und geheimer Biografie. Die politische Sorge bezieht ihr Pathos vom persönlichen Konflikt. Worauf sie sich bezieht, scheint zunächst klar: Auf einen Luftangriff auf iranische Atomanlagen, dessen Ziel es ist, die Entwicklung iranischer Kernwaffen zu verhindern oder zu verzögern. Im Gedicht ist jedoch von etwas ganz anderem die Rede: von einem «in Planspielen geübten», «voraussehbaren» «Verbrechen», das das «iranische Volk auslöschen könnte». Der Leser erkennt sogleich das historische Modell, das hier auf die nahöstliche Zukunft projiziert wird, wobei sich unter der Hand die arithmetischen Größen in der algebraischen Formel ändern. Es ist das Modell der Vorbereitung Hitlerdeutschlands auf den Zweiten Weltkrieg, den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und den Holocaust, ergänzt durch das Modell der Vorbereitung eines Atomschlags der US-Luftwaffe gegen Japan im August 1945. Grass ruft im Leser eine historische Erfahrung auf, die seinem Warnruf apokalyptisches Gepräge gibt. Nach poetischer Permutation des historischen Schemas erscheint der Staat Israel als (wahrscheinlicher) «Verursacher» einer Katastrophe, der (diesmal) das Volk des Iran zum Opfer fiele. Diese Vision eines neuen Hiroshima im Iran ist nicht einfach ein Erzeugnis dichterischer Freiheit, sondern Resultat einer «falschen Projektion», eines «Ausfalls der Reflexion». «Vom Wahn okkupiert» (Grass) ist nicht nur die «Region» des Nahen Ostens, wo die einen wünschen, das «zionistische Gebilde» zu «vernichten», während die andern vom Verschwinden des «Mullah-Regimes» und vom großen «Transfer» träumen, der sie ein für allemal von den Palästinensern befreien würde. Der «Wahn» ist auch hierzulande heimisch. Vom Sturm andrängender Worte, Bilder und Leidenschaften getrieben, ist Dichters Narrenschiff schließlich in den Hafen jener seltsamen Region eingelaufen, wo man früher glaubte, nicht Wind und Wetter, sondern «die Juden» seien an allem schuld, und in der seit 1948 nicht wenige der Meinung sind, zumindest deren Staat sei der Schuldige – jener Staat, der den Verfolgten und ihren Nachkommen ein Refugium bietet, von dem noch immer nicht ausgemacht ist, ob es nicht eines Tages zu einer Falle wird. Nicht wenige, die die Erinnerung an den von Hitler-Gefolgsleuten organisierten Holocaust bedrückt, sind erleichtert, wenn sie hören, dass Israel sich gegenüber den Palästinensern und ihren Revolten wie ein ordinärer Kolonialstaat aufführt. Mit Genugtuung werden sie registrieren, dass nun auch Günter Grass einen Genozid, begangen von Israelis am iranischen Volk (etwa durch die Einäscherung Teherans durch eine israelische Atombombe) für eine reale Möglichkeit hält, vor der es zu warnen gilt. Das aber ist ein Stück deutscher Misere. *Günter Grass, «Was gesagt werden muss», Süddeutsche Zeitung, 4.4.2012. **Marcel Reich-Ranicki meinte, das «ekelhafte», «politisch und literarisch wertlose Gedicht» von Grass sei «ein geplanter Schlag nicht nur gegen Israel, sondern gegen alle Juden»; Ralph Giordano hielt es für einen «Anschlag auf Israels Existenz». Jakob Augstein, Sohn des Blattgründers, kommentierte auf Spiegel-Online: «Man muss Grass danken. Er hat es auf sich genommen, diesen Satz für uns alle auszusprechen. Ein überfälliges Gespräch hat begonnen.»
Alle Zitate nach H.Lackner, «Auf schmalem Pfad», Profil (Wien), 16.4.2012.
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