Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2012

Arbeiter und Widerstandskämpfer gegen mehrere Diktaturen

von Gert Eisenbürger

Ich traf Ernesto zum ersten Mal 1990 in Montevideo. Im Gepäck hatte ich seine Autobiographie «Exil in der Heimat – Heim ins Exil». Durch sie hatte ich Einiges über seine Geschichte erfahren:

Seine Jugend in Breslau, sein Engagement bei den deutsch-jüdischen «Kameraden» und der Kommunistischen Jugend Opposition in der Endphase der Weimarer Republik, seine Untergrundaktivitäten gegen die Nazis, seine Gefängnis- und KZ-Haft 1934–37, die Emigration über Jugoslawien nach Uruguay, sein Engagement in der dortigen Arbeiterbewegung, sein Widerstand gegen die Militärdiktatur, die sich 1973 an die Macht geputscht hatte, die erneute Flucht und das zweite Exil in Frankfurt am Main, schließlich 1985 die Rückkehr nach Uruguay, wo er sein sozialistisches Engagement fortsetzte.

Gerade in Montevideo angekommen, rief ich ihn an und fragte, ob ich ihn über seine Lebensgeschichte interviewen könne. Er fragte zurück, ob wir nicht lieber über die Entwicklung in Uruguay reden sollten. Seit einem halben Jahr regiere das Linksbündnis Frente Amplio die Stadt Montevideo, das sei doch viel interessanter. Eine für Ernst typische Antwort: Er war immer der Gegenwart zugewandt. Nur wenn jemand mehr über sein Leben erfahren wollte, gab er auch darüber bereitwillig Auskunft.

Wir sprachen also über seine Geschichte. Sobald das Aufnahmegerät abgeschaltet war, erzählte er, was die Linke in Montevideo ändern wolle. Der «reale Sozialismus» war gerade zusammengebrochen, und er hatte die KP Uruguays verlassen, weil die daraus keine Konsequenzen zog, sondern an der alten Politik festhielt. Ernst meinte, die Zentralisierung von Macht und Entscheidungsprozessen und die Entmündigung der Menschen habe den Sozialismus à la DDR ad absurdum geführt. In Montevideo würde das Gegenteil versucht, mit einer Dezentralisierung der städtischen Verwaltung und der Entwicklung neuer Formen demokratischer Beteiligung.

Das politische Engagement war sein Lebenselixir. Ernst war zeitlebens Marxist. Der Marxismus hatte er in der KJO, der Jugend der KPD-Opposition (KPO) gelernt. Dort wurde in den frühen 30er Jahren nicht Stalin gehuldigt, sondern mit dem marxistischen Instrumentarium die kapitalistische Gesellschaft analysiert und daraus Politik im Interesse der Arbeitenden entwickelt. Diesem Ansatz blieb Ernst treu, war zugleich aber offen, hat etwa sehr früh die Bedeutung der Ökologiefrage erkannt. Linke Politik war für ihn daran zu messen, was sie den Arbeiterinnen und Arbeitern, den Unterprivilegierten und Ausgegrenzten bringt. Sein gesamtes Engagement zielte auf ein gutes Leben für diejenigen, die noch vom gesellschaftlichen Reichtum ausgeschlossen waren.

Trotz seiner zurückhaltenden Art war Ernst nahe bei den Menschen. Dabei war er alles andere als ein Populist, er redete niemandem nach dem Mund. Aber er hörte den Leute zu und wusste, was sie bewegte. Gleichzeitig interessierten ihn die Erfahrungen neuer sozialer Ansätzen wie Wohnprojekte, Kollektivbetriebe oder alternative Bildungseinrichtungen.

Gefühle zeigte er selten, obwohl er ein sehr sensibler Mensch war. Nur einmal, als er erzählte, er fühle sich schuldig, weil er seine Eltern nicht vor dem Holocaust habe retten können, liefen ihm Tränen über das Gesicht. Diesen Moment der Verzweiflung werde ich nie vergessen.

Seine zweite große Leidenschaft war die Literatur. Er war sein ganzes Erwerbsleben Metallarbeiter gewesen, zunächst in Breslau, dann in Montevideo bei der Eisenbahn und in einem Betrieb für Dampfkesseltechnik. In seiner Freizeit schrieb er für Gewerkschaftszeitungen. Irgendwann hat er dann ein Büchlein mit kurzen Erzählungen über das Leben im Barrio Sur, einem stark afroamerikanisch und jüdisch geprägten Kleine-Leute-Viertel Montevideos, verfasst.

Erst als er 1982 nach Frankfurt in sein zweites Exil kam, widmete er dem Schreiben mehr Zeit, zunächst nur mit der Absicht, den Deutschen das Leben unter den Diktaturen in Lateinamerika näher zu bringen. Eine Auswahl seiner Erzählungen erschien 1987 im Peter Hammer Verlag. 1990 veröffentlichte er seine Lebenserinnerungen, die 2004 als überarbeitete Neuauflage im Verlag Assoziation A herauskamen und seitdem zwei weitere Auflagen erlebten. Außerdem publizierte er ein sehr informatives Buch zur Geschichte Uruguays. Nach seiner Rückkehr nach Montevideo schrieb er den Roman «Wo auch immer…»

Danach wandte er sich wieder der spanischen Sprache zu und veröffentlichte in Uruguay mehrere Bände mit Erzählungen sowie 1996 das Sachbuch «Ilusiones, Frustraciones y Esperanzas de la Izquierda» (Illusionen, Frustrationen und Hoffnungen der Linken), in dem er für das uruguayische Publikum die Debatten in der europäischen Linken nach dem Zusammenbruch des «realen Sozialismus» und die Ökologiefrage reflektierte. Sein letzter Band mit Erzählungen erscheint dieser Tage posthum und wird im Juni im Bertolt-Brecht-Haus in Montevideo vorgestellt.

Die politische Debatte war ihm sehr wichtig. Wenn er im Raum Köln/Bonn war – er kam jedes Jahr für einige Monate nach Deutschland –, haben wir uns immer mit Genossinnen und Genossen getroffen. Es machte Spaß, mit ihm zu reden, weil es ihm niemals darum ging, Recht zu behalten. Er diskutierte, um die Ansätze klarer herauszukristallisieren, das eigene Handeln kritisch zu reflektieren und, wenn möglich, gemeinsame Positionen zu finden.

Häufig waren wir unterschiedlicher Meinung, oft ging es dabei um die linke Sicht auf den Staat. Für ihn war die Erringung staatlicher Machtpositionen ein notwendiger Schritt für die Durchsetzung emanzipatorischer Politik, für uns waren staatliche Strukturen eher Teil des Problems als Instrumente der Lösung. Wobei wir uns durch die politischen Entwicklungen annäherten: Wir kamen durch die neoliberale Privatisierungspolitik in die Rolle, staatliche Sozialsysteme und Regulierungsinstrumente zu verteidigen, er erlebte in Montevideo, dass fortschrittliche Initiativen der Linken häufig von der städtischen Bürokratie ausgebremst wurden.

Bei dem eingangs erwähnten Interview 1990 fragte ich, warum er und Eva 1985 trotz ihrer Verankerung in Frankfurt wieder nach Montevideo gezogen seien. Damals antwortete er, wahrscheinlich hätten sie in Deutschland mehr Freunde als in Uruguay. Aber die anderen, diejenigen, die nicht Freunde im engen Sinne seien, die Nachbarn, das Milieu im Viertel, die Gesellschaft, die seien in Montevideo viel angenehmer. Deshalb hätten sie zurückgewollt. Nun starb Ernst am 11.März 2011 doch in Frankfurt und nicht in seinem geliebten Montevideo.

Im Andenken an Ernesto Kroch bitten wir um Spenden für das Bertolt-Brecht-Haus in Montevideo, in dem er über Jahrzehnte aktiv war:

Alexander-von-Humboldt-Gesellschaft e.V.,
Postbank Berlin (BLZ 10010010)
Kontonummer 443499102,
Verwendungszweck: Casa Bertolt Brecht, Montevideo.

?

Teile diesen Beitrag:

Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.