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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2012

Über angeblich von Polen geraubte Gebiete und den Hitler-Stalin-Pakt

von Kamil Majchrzak

Auf Einladung der Berliner VVN-BdA kamen zehn polnische Kriegsveteranen der 1.polnischen Armee, darunter Kämpfer, die am Sturm auf Berlin 1945 beteiligt waren, zum «Tag des Sieges am 9.Mai». Anlässlich dessen veröffentlichte die junge Welt am 16.5. einen Artikel von Charlotte Langenkamp und Peter Rau, «Andenken an Berlin», in dem u.a. zu lesen war:

«Zum besseren Verständnis ihrer Geschichte sei an dieser Stelle ein kleiner Ausflug in die Vergangenheit gestattet: Nach der im September 1939 erfolgten Wiederinbesitznahme der 1920/21 von Polen geraubten Gebiete in Belorussland und der Ukraine waren Zigtausende polnische Kriegsgefangene und deren Familienangehörige nach Sibirien deportiert worden.» Darauf antwortete Kamil Majchrzak in einem Leserbrief an die jW, den die Zeitung aber nicht abdrucken konnte. Der Text erschien deshalb in SoZ 6/2012.

Zum Hintergrund: Im August 1920 versuchte die Rote Armee im Polnisch-sowjetischen-Krieg Warschau einzunehmen. Dies scheiterte jedoch und die polnischen Truppen schlugen den Gegner bis in die Ukraine zurück. Im Friedensvertrag von Riga am 18.März 1921 wurde Polens Ostgrenze etwa 250 Kilometer östlich der Curzon-Linie festgelegt. Ein geheimes Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt vom 24.August 1939 teilte Polen wieder in einen deutschen und einen sowjetischen Teil. Am 1.September 1939 marschierten die Hitlertruppen in Polen ein, am 17.September die sowjetische Armee in Ostpolen.

die Redaktion

 

 

 

Verklärung von Fehlern

Es gibt genügend Gründe, um die Politik der Polnischen Republik vor 1939 unter dem Sanacja-Regime zu kritisieren: wegen der nach dem Tod von Pilsudski zur Tagesordnung werdenden Pogrome gegen Juden, wegen des Schulbankghettos an der Warschauer Uni, den Morden seitens der polnischen Faschisten der ONR-Falanga, der gewalttätigen Minderheitenpolitik gegenüber Ukrainern, den Repressionen gegen polnische Kommunisten und Spanien-Kämpfer usw. Eine linke Kritik dieser Politik muss sich jedoch vom Niveau der nazideutschen Propaganda unterscheiden, die vor dem Überfall auf Polen am 1.September 1939 als Rechtfertigung für den Einmarsch diente.

 

Es ist bedenklich und gefährlich, wenn heute immer noch Widersprüche in der Geschichte des Kommunismus von einigen in der deutschen Linken nicht ausgehalten werden können und Zuflucht in geschichtlicher Verklärung gesucht wird. Die Autoren des Artikels «Andenken an Berlin» bekommen offensichtlich rote Pausbacken, wenn sie vom Mord der polnischen Intelligenz in Katyn hören, und sehen sich bemüßigt, den Lesern der jungen Welt einen «Ausflug in die Vergangenheit» aufzunötigen. Damit sollen wohl Fehler der Führung unter Stalin gerechtfertigt werden, die nicht zu rechtfertigen sind – Fehler, die Tausenden deutscher und polnischer Kommunisten das Leben kosteten. Fehler, die offenbar noch heute bei einigen Vertretern der deutschen Linken Schweißperlen hervorrufen und zu Artikeln wie dem oben erwähnten führen.

 

Die Autoren sind nicht in der Lage oder willens, trotz oder gerade wegen dieser Fehler, dennoch die Bedeutung der Sowjetarmee für die Befreiung Europas vom Faschismus gegen Angriffe von Totalitarismus-Theoretikern zu verteidigen. Vielmehr liefern sie durch ihre verkorkste Weltanschauung genau jenen die Argumente, die den Antifaschismus und die Rolle der sowjetischen Armee bei der Befreiung vom Faschismus als solche diffamieren wollen. Es reicht nicht aus, einen begründeten Ekel vor dem Realkapitalismus zu haben, wenn dies nur dazu dient, die eigenen Fehler der Vergangenheit verschleiern zu wollen.

 

Denn dies versperrt den Weg für die Zukunft und ist eine Anmaßung gegenüber den polnischen Gästen, die trotz der Verbrechen dieser Zeit an der Seite der Sowjetarmisten gemeinsam gegen den deutschen Faschismus kämpfen wollten und, anders als der Autor des jW-Artikels, genau zwischen der Politik Stalins und der Gerechtigkeitsidee wie auch zwischen einer verfehlten Politik und den Menschen in der Sowjetunion unterscheiden können.

 

Falsche historische Herleitung

Der in Polen seit 1918 tobende Kampf um seine Grenzen – nachdem das Land, das 123 Jahren auf Preußen, das zaristische Russland und das Kaiserreich Österreich-Ungarn aufgeteilt gewesen war, seine Nationalstaatlichkeit wieder erlangt hatte – kann nicht als Erklärung für die von Stalin, Chamberlain und Daladier von 1939 bis 1941 betriebene Appeasement-Politik gegenüber Hitler herhalten. Denn der Grenzverlauf blieb während der Verhandlungen zur Beendigung des Ersten Weltkriegs in Versailles offen. Im Ermland und in Masuren wurde er durch Plebiszite, in Schlesien zusätzlich in drei Aufständen gegen die Deutschen festgelegt.

 

Der Grenzverlauf zur Sowjetunion wurde im Zuge des polnisch-sowjetischen Krieges 1919–1921 und der anschließenden Einigung zwischen Polen und Sowjetrussland im Rigaer Abkommen vom 18.März 1921 festgelegt. Diese Einigung wurde in Versailles 1918 vorausgesetzt und 1923 von der Botschafterkonferenz von Versailles bestätigt. 1932 konnte deshalb auch ein Nichtangriffspakt zwischen Polen und der Sowjetunion geschlossen werden. Welche angeblich der Sowjetunion «geraubten» Gebiete waren also nach Auffassung der Autoren 1939 noch strittig?

 

Immerhin kämpfte auch General Zygmunt Berling 1920 gegen Sowjetrussland, als es um die Wiedererlangung der Staatlichkeit nach den drei Teilungen ging, und formierte später die 1.Polnische Armee in der Sowjetunion. Er hätte auch ein Opfer von Katyn sein können, so wie viele Professoren oder Ärzte mit falschem Uni-Abschluss, darunter der Vater von Janina Bauman, dessen späterer Ehemann Zygmunt Bauman, als Janina im Warschauer Ghetto ums Überleben kämpfte, sich der 4.Division unter Berling anschloss, um gemeinsam mit der sowjetischen Armee gegen die Nazis zu kämpfen.

 

Es waren auch nicht einfach «polnische Kriegsgefangene und deren Familienangehörige», die «nach Sibirien deportiert worden» waren. Dies erweckt den Anschein, dass der polnisch-sowjetische Krieg nicht 1921 in Riga, sondern erst im Februar 1940 mit den ersten Deportationen nach Sibirien beendet wurde. Der Befehl des polnischen Oberbefehlshabers, Edward Rydz-Smigly, lautete am 17.September 1939: «Den Sowjets keinen Widerstand leisten.» Welche Kriegsgefangenen waren es denn, wenn es kaum Gefechte gab? Diese Menschen wurden vielmehr als Konsequenz des neuen Grenzverlaufs deportiert, der im geheimen Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom August 1939 zwischen Molotow und Ribbentrop vereinbart worden war. In der damaligen Nomenklatur hieß es, es handle sich um Kulaken.

 

Was wollen die Autoren des Textes denn zu unserer polnischen Kombattantin Anna Szelewicz sagen, die wir zu den 9.Mai-Feierlichkeiten eingeladen haben und die u.a. das KZ Sachsenhausen befreit hat? Fühlen die Autoren sich gedrängt, ihr einen Ausflug in die Geschichte aufzuzwingen um zu erklären, warum sie als 15-Jährige ohne ihre Eltern nach Irkutsk verschleppt wurde und ihre vierjährige Schwester Elzbieta an den Folgen des Hungers in Sibirien sterben musste? War die auch heute noch polnische Stadt Bialystok, aus der sie damals verschleppt wurde, etwas was 1920/21 Sowjetrussland «geraubt» wurde?

 

Rechtfertigung

Wenn die Autoren des jW-Artikels «Andenken an Berlin» sich gezwungen sehen, die Beschwichtigungspolitik Stalins gegenüber Nazideutschland und den Einmarsch sowjetischer Truppen am 17.September 1939 mit einer angeblichen «erfolgten Wiederinbesitznahme der 1920/21 von Polen geraubten Gebiete in Belorußland und der Ukraine» zu rechtfertigen, unternehmen sie nicht einen «Ausflug in die Vergangenheit», sondern berauben sich selbst des geschichtlichen Verstands. Wie kann etwas geraubt werden, was den Grenzverlauf der zweiten polnischen Teilung von 1793 widerspiegelt und abschließend von Sowjetrussland in Riga 1921 anerkannt wurde, wobei beide Seiten auf etwaige Gebietsansprüche verzichtet haben?

 

Wer durch solche Geschichtsakrobatik versucht, u.a. die gemeinsame Siegesparade der Wehrmacht und der sowjetischen Armee mit General Guderian und General Semjon Kriwoschein im sowjetisch besetzten Brzesc 1939 zu rechtfertigen, der vergisst, dass diese Kollaboration nicht nur gegen Polen gerichtet war, sondern vor allem gegen die Kommunisten in den besetzten Gebieten und die Menschen in der Sowjetunion, die kurze Zeit später beim Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion einen hohen Preis dafür zu zahlen hatten.

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